„Oh, guten Tag, Yurenas! Ich habe dich erst gar nicht erkannt." Ein Lächeln machte sich auf dem faltigen Gesicht breit. Er wirkte zwar schon so gut wie tot, doch keineswegs unglücklich. Yurenas sah Makarik etwas bestürzt an.
„Sowas, sind deine Augen schon so schlecht geworden, mein Lieber?" fragte er, ohne weiter auf das Thema einzugehen. Makarik nickte aus einem Grund, der sich Palk nicht erschloss und hob zittrig die Schultern.
„Sie ist vor ein paar Minuten wieder gegangen. Ich kann dir allerdings leider nicht helfen, denn sie hat mir nicht gesagt, wohin sie wollte. Ja, ja, so ist das mit den jungen Damen heutzutage. Dauernd müssen sie unterwegs sein, durch die Gegend streifen und irgendwelches Glitzerzeugs sammeln. Ich kann dir gar nicht sagen, wie..-"
„Was denn für Glitzerzeug?" sprach Yurenas dazwischen.
„Die Kristalle." dachte Palk laut.
„Ein Schwert?" richtete Yurenas sich nach einem kurzen Nicken wieder an seinen Freund.
„Woher weißt du denn das?" wunderte sich Makarik und ehe ihm einer der beiden antworten konnte, wurde der Himmel über ihnen in einen weißlichen Schimmer getaucht. Die drei blickten gleichzeitig in die Richtung, aus der das Leuchten zu kommen schien. Eine dünne Säule aus purem Licht, reckte sich hinter der einzigen anderen Häuserreihe in der Nähe nach oben, sodass sie zwar erahnen konnten, von wo es kam, doch nicht, was der Auslöser war.
Makarik konnte nicht genau sagen, ob es mit dem Schrecken zutun hatte, der ihm beim Anblick des Lichts durch die mageren Glieder gefahren war, oder ob sein schwaches Herz ganz einfach den Geist aufzugeben versuchte. Jedenfalls brach er zusammen und fiel neben der noch offenstehenden Tür auf die Knie. Yurenas konnte ihn gerade noch auffangen, da rannte Palk los.
„Du bleibst bei Makarik!" rief er ihm noch über die Schulter zu, dann verschwand er um die nächste Ecke. Innerlich war er froh, dass die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war, sonst hätten sie das Licht möglicherweise gar nicht bemerkt.
Im Rennen blickte er immer wieder nach oben, wo sich langsam aber stetig das Leuchten an einer Stelle fokussierte und von seinem Zentrum am Himmel ausbreitete.
Ziemlich schnell hatte er den Marktplatz erreicht, an dessen westlichen Ende die in Schwarz gehüllte Frau stand und das silbrig glänzende Schwert gen Himmel reckte. Nun erkannte Palk klar und deutlich, dass es das Schwert selbst war, dessen vier in die jeweils passenden Ecken eingesetzten Kristalle, durch ein weißes Band miteinander verbunden waren und so intensiv leuchteten, dass Lady Atokēla die Augen abgewandt hatte.
Er zog sein Schwert vom Rücken und kam in einem normalen Tempo auf sie zu. Als er in ihr Blickfeld trat, wirkte sie nicht sonderlich überrascht. Sie hatte sich diesmal nicht die Mühe gemacht, die unpraktische Kapuze über den Kopf zu ziehen, damit sie ihre gesamte Umgebung auch problemlos sehen konnte. Die Älteste Merkuri schaute Palk mit ihren grünblauen Augen an, das Dritte konnte er nicht sehen.
Auch hatte er keine Ahnung, warum sich auf dem sonst so überfüllten Marktplatz heute niemand aufhielt. Hatten sie etwas angst vor dem heiligen Schwert? Palk erkannte keinerlei Hass oder Feindseligkeit im Gesicht der alten Dame, die sich nicht einen Millimeter vom Fleck rührte, während Palk mit gezogenem Schwert näherkam.
„Ich sehe, du hast zwei der magischen Kristalle eingesetzt." kommentierte sie seinen Auftritt und sah sich zum Weitersprechen gezwungen, als sie seinen leicht verwirrten, aber vor Allem ernsten Gesichtsausdruck sah. „Du brauchst mich nicht zu fürchten, junger Mann. Niemand braucht das, denn ich bin die Erlöserin dieser Welt, von all dem Schrecklichen, vor dem sie sich fürchtet. Ich bin in diesem Spiel die Gute, das kannst du mir gerne glauben."
„Was soll das da werden?" wollte Palk wissen und kam nun noch langsamer näher.
„Das Siegel wird brechen. Die Menschen werden wieder in Panik geraten." antwortete Merkuri. „Wenn es mir gelingt, den dunklen Gott in diese Welt zu locken und ihn augenblicklich mit dem heiligen Schwert zu vernichten, wird es nie wieder so weit kommen, dass er uns tyrannisiert."
„Sie wollen den dunklen Gott in unsere Welt holen? Sind Sie denn vollkommen wahnsinnig, Merkuri?" Palk konnte kaum an sich halten. Was er da gehört hatte, sorgte für ein ungewohnt mulmiges Gefühl in seiner Magengegend und sämtliche Nackenhaare stellten sich bei ihm auf.
„Ich muss es tun! Es ist meine Bestimmung." gab sie zurück und wurde immer lauter dabei, denn das Licht, welches sich am Himmel immer weiter ausbreitete, gewann an Intensität, wobei es ein zischendes Geräusch erzeugte, das sie zu übertönen drohte.
„Aber...warum jetzt? Warum nach zwanzig Jahren?" Palk verstand es einfach nicht. „Warum musste es genau an diesem Tag sein? Hat es damit zutun, dass sich die Leute wieder erinnern werden? Das ist es doch nicht wert!" rief er ihr zu und kam noch etwas näher. Er sah, wie sie langsam den Kopf schüttelte.
„Es wäre nicht schön, wenn Lyiapatazia unter der Furcht der vergangenen Ereignisse leiden müsste." begann sie. „Aber das ist nicht der Grund. Hat dir Yurenas eigentlich gesagt, dass das Bannsiegel, mit dem der Ältestenrat diese Bestie in ihre Dimension zurück gezwungen hat, seine Wirkung auch bald aufgebraucht haben wird?" Palk spürte, wie sein Herz immer stärker gegen seine Brust hämmerte.
Dieses Gefühl war neu für ihn. Schon früher hatte es die ein oder andere Situation gegeben, in der er sich unwohl oder sogar etwas bedroht gefühlt hatte, doch diese Ausnahmefälle, lagen weit zurück und sie waren nie so intensiv gewesen wie heute. Er ahnte, dass sein Leben und möglicherweise sogar das der ganzen Welt davon abhingen, wie er jetzt reagierte.
„Woher wollen Sie das wissen?" fragte er vorsichtig.
„Weil es zwar ein sehr starkes Bannsiegel ist, aber wenn einer der Anwender den Tod finden sollte, wird es erheblich an Kraft einbüßen. Du darfst auch nicht vergessen, dass es ein Gott ist, von dem wir hier sprechen und ihm genügt es eventuell sogar, wenn die Ältesten nur schwächer werden. Es ist zu unberechenbar, wann er seine Fesseln sprengen und sich wieder in diese Wirklichkeit verirren wird."
„Sie haben gerade ganz speziell den Tod eines Beteiligten genannt." bemerkte Palk. Welcher ist es? Etwa ihr Mann? Er sah sehr schwach aus, als wir ihn gesprochen haben." Palks Stimme hatte etwas Betroffenes.
„Ja, er wird bald sterben." antwortete Merkuri, doch sie klang nicht so gerührt, wie sie hätte sein müssen.
„Warum geht das bei ihm auf einmal so schnell? Und wie zur Hölle ist es eigentlich möglich, dass sie so viele unterschiedliche Fähigkeiten haben?" wollte Palk wissen und Merkuri lächelte dünn.
„Du bist neugierig, aber alles hast du wohl auch nicht herausfinden können. Willst du wissen, wie alt ich bin?" Palk brauchte keine Reaktion zu zeigen, denn Merkuri antwortete trotzdem. „Ich bin 228 Jahre alt."
„Aber Sie sind doch..-"
„Eine waschechte Bermuthanerin, ja." nahm sie ihm die Worte aus dem Mund.
„Ich bin ziemlich sicher, dass euer Volk nie älter als vielleicht hundert wird." meinte Palk und legte die Stirn in Falten. Konnte er ihr glauben? Sie hatte immerhin bemerkenswert viele Fähigkeiten, wenn man bedachte, dass es angeblich ein halbes Leben lang dauern soll, nur eine davon zu beherrschen. Plötzlich kamen Lakran und Makkatū angelaufen und stellten sich mit wenigen Metern Abstand hinter Palk.
„Du hast mich ja vorhin ganz schön abgehängt." beschwerte Lakran sich. Dann wies er mit dem Daumen, auf den jungen Mann neben sich. „Dafür hab ich Verstärkung mitgebracht."
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Palk - Finde dein Schicksal [Überarbeitung seit 08.2023]
FantasyDer gerade volljährig gewordene Meluhhaner Palk plant, seine Heimat zu verlassen und die Welt zu entdecken. Doch während er zu diesem Zweck einige Verbündete um sich schart, geschehen schreckliche Dinge und finstere Geheimnisse kommen allmählich ans...