Kapitel 29: Wer ist Tiraitan? IV

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11 Jahre zuvor; Im Haus des Oberältesten Viyalān; Mittagszeit

Gelangweilt trommelte der heranwachsende Kämpfer, auf dem Eichenholztisch herum, an dem er seit dem Ende seiner heutigen Lektionen saß und nichts mit sich anzufangen wusste. Seine beinahe purpurroten Haare standen ihm zu Berge, als stünde er unter Dauerstrom, weshalb er sich manchmal wünschte, so schön liegende Haare wie seine jüngere Schwester zu haben. Selbstverständlich in kurz, sonst würde er sich affig vorkommen, wenn er draußen trainierte.

Die Haustür wurde von außen aufgestoßen und das Quietschen, dem ein lautes Knallen folgte, riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte den Kopf und empfing das hübsche Mädchen, das mit einem strahlenden Lächeln auf ihn zurannte, mit einem Grinsen. Sie warf sich ihm in die Arme und lachte, als er sie zu kitzeln anfing.

Gemeinsam fielen sie zu Boden und rangelten darum, wer die Oberhand hatte, wobei Tiraitān sich natürlich immer zurückhielt, um der kaum trainierten 12-Jährigen eine Chance zu lassen. Nach einigen Minuten lauten Gelächters, stoppte Tiraitān das kleine Spiel, welches inzwischen zu einem Ritual für die liebenden Geschwister geworden war. Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie etwas ernster an.

„Wir war das Training heute?", wollte er wissen und ihr Lächeln schwand schlagartig.

„Ich bin soo froh, dass es endlich vorbei ist.", meckerte sie. „Diese blöden Jungs machen sich immer über mich lustig, weil ich so klein bin und weil ich nicht mit Yakun kämpfen wollte."

„Ist der nicht etwa einen halben Meter größer als du?" wunderte sich Tiraitān Katāla nickte heftig.

„Und älter ist er auch und viel stärker." Sie klang etwas niedergeschlagen. Tiraitān legte leicht den Kopf zur Seite und sah sie solange an, bis sie seinetwegen grinsen musste. Dann nahm er sie in den Arm und drückte sie einige Sekunden an sich. Er hatte seit dem Tod ihrer Eltern nicht mehr viel, über das er sich freuen konnte.

Schlimm genug, wenn man sich kaum noch daran erinnern konnte, wer einen in die Welt gesetzt hatte, doch obendrein hatte ihr Großvater – zumindest nannte ihn jeder so – die beiden Kinder bei sich aufgenommen und ließ sie fast durchgehend allein in seinem riesigen Haus, in dem es kaum Nennenswertes gab. Die Pflege des Hauses, die Erziehung seiner Schwester und teils sogar die Verwaltung von Viyalāns Terminen, blieben ausschließlich an dem Jungen hängen. Oft dachte er sich, dass Alles nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn er nicht auch noch viele Stunden täglich, zum Trainingsplatz müsste, um dort mit den Anderen zu kämpfen.

Der Oberälteste Viyalān hatte extrem hohe Ansprüche an seinen inzwischen einzigen, männlichen Nachkommen und war entsprechend streng, wenn er dann mal Zuhause war und mitbekam, dass nicht alles nach seinen Vorstellungen lief. Tiraitān wusste, dass es falsch war, so zu denken, aber manchmal hasste er Viyalān und konnte schon sauer werden, wenn er nur dessen Gesicht sah.

Als er merkte, dass er erneut in seinen Gedanken versunken war, blinzelte er ein paar mal und löste sich wieder aus der Umarmung.

„Hast du hunger? Ich hab vorhin Essen gemacht. Es gibt dein Lieblingsessen.", sagte er leise und zwinkerte seiner Schwester zu, doch die schüttelte bloß den Kopf.

„Nein, ich mag nicht.", meinte sie betrübt und ließ den Kopf hängen. Tiraitān fand es gut, dass Katāla noch so kindlich war und scheinbar gut mit der Tatsache zurechtkam, dass sie von ihrem Bruder großgezogen wurde. Sie so traurig zu sehen, gefiel ihm allerdings gar nicht. Da fiel ihm etwas ein.

„Hey, ich hab 'ne Idee!", sagte er übertrieben eifrig und schnippte mit den Fingern. „Ich muss noch in den Wald, um Feuerholz für die nächsten Tage zu besorgen. Es soll wieder kälter werden. Willst du vielleicht mit mir kommen?" Katāla sprang vor Freude hoch und Tiraitān konnte gerade noch ausweichen, damit sie ihm nicht mit einer ordentlichen Kopfnuss den Kiefer brach.

„Darf ich wirklich mit?", fragte sie überrascht. „Sonst wolltest du nie, dass ich dich begleite."

„Früher war es auch zu gefährlich für sich, aber inzwischen bist du groß und weißt, wie du auf dich aufpasst.", antwortete Tiraitān und verschwieg ihr, dass der wichtigere Grund für ihr Mitkommen darin bestand, dass sie nicht allein im Haus bleiben sollte. Er war ständig in Sorge um Katāla und konnte auch nicht einfach zusehen, wie sie traurig in ihrem Zimmer saß.

Auf dem Weg in den kleinen Wald, der sich südlich von Lyiapatazia befand, redeten die beiden nicht viel miteinander. Katāla genoss viel lieber die schöne Sicht auf die Felder, die wenigen hohen Bäume, prachtvolle, altmodische Häuser aus Holz und vielen verschiedenen Blumen, die es dort gab.

Sie betraten den Wald und gingen etwas tiefer hinein, bis Tiraitān eine stelle gefunden zu haben schien, mit der er zufrieden war. Er ballte angestrengt die linke Hand zu einer Faust und Katālas Augen klebten förmlich daran. Leise und schwach, züngelten die kleinen Blitze um die Finger des Jugendlichen, der nun langsam den Zeigefinger ausstreckte und allmählich den Druck verringerte.

Es war ihm gelungen, die elektrische Energie in einem einzigen Finger zu konzentrieren und mit diesem zielte er auf einen dicken Ast, der einige Meter über ihnen hing. Katāla fiel erschrocken zurück, als der Blitz ohne Vorwarnung aus dem Finger ihres Bruders schoss und augenblicklich den Ast zu ihnen herunterholte.

Fasziniert kam sie näher und sah, dass der Ast, an der Stelle, wo Tiraitān ihn vom Rest des Baumes getrennt hatte, verkohlt war. Obwohl sie die Art traurig fand, wie diese Technik angewendet wurde, leuchteten ihre Augen. Sie sah zu ihrem großen Bruder hoch, der mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, auf den nächsten Ast zeigte.

„Kannst du mir beibringen, wie das geht?" wollte das Mädchen wissen und Tiraitān tätschelte ihr mit der unbenutzten Hand den Kopf.

„Das würde ich gern, aber Viyalān sagt, dass du keine Begabung für die Blitzenergie hast. Du wirst es also leider nie lernen können." antwortete er bedauernd.

„Ich will mich aber wehren können, wenn dieser Blödmann mich wieder haut!" sagte Katāla laut und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Tiraitān spitzte die Ohren, ließ von dem Baum ab, dem er bereits drei dicke Äste genommen hatte und sah zu seiner Schwester herunter.

„Wenn wer dich wieder haut?" fragte er ernst und als Katāla seinen Blick erwiderte, bekam sie eine leichte Gänsehaut.

„Yakun." erwiderte sie. „Als ich gesagt hab, dass ich nicht gegen ihn kämpfen will, hat er mich auf den Boden geschubst und mich getreten." Sie bemerkte die Veränderung, die sich im Innern ihres älteren Bruders ereignete sofort. Er ballte die Fäuste, seine Augen verloren ihren üblichen goldenen Glanz und er biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie angst hatte, er könnte sie selbst herausbrechen.

Eine seltsame, körperlich spürbare Wut ging von ihm aus und sie hatte kurz den Eindruck, zwischen seinen Zähnen, eine spitze Eckzähne zu sehen.

„Er hat dich getreten, als du schon am Boden gelegen hast?" knurrte der vor Zorn bebende Tiraitān und Katāla versuchte ihn zu beruhigen.

„Naja, ich hab eher gesessen und es war ja auch nur einmal..-"

„Aber wehgetan hat er dir trotzdem." stellte Tiraitān fest und das Knurren, das irgendwo aus seinem tiefsten Inneren zu kommen schien, wurde lauter. Das ängstliche Mädchen warf sich ihm verzweifelt um den Hals.

„Ist schon gut! So schlimm war es auch wieder nicht. Hör auf, Tiraitān!" rief sie zwei- dreimal, bis er sie endlich zu hören schien. Langsam aber sicher wurde er wieder ruhiger und entspannte sich bald wieder. Etwas erschöpft atmete er tief ein und aus, bevor er sich wieder seiner Aufgabe widmete, als sei nichts gewesen.

Palk - Finde dein Schicksal [Überarbeitung seit 08.2023]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt