Kapitel 4: Die Reifeprüfung I

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Gemessenen Schrittes betraten die beiden das imposante Gebäude und liefen durch die große Halle bis zu den weißen Stufen, welche vom mittleren Teil des lichtdurchfluteten Eingangsbereichs bis fast direkt vor die gewaltige Flügeltür im ersten Stock führte. Palk war zwar schon viele male im Palast gewesen, doch hatte dies seine Bewunderung für das kunstvoll gearbeitete Geländer aus purem Gold nicht im geringsten geschmälert. Jedoch spürte er, wie Lakran langsamer wurde und sah dessen mutlosen Gesichtsausdruck.

"Das wird schon", sagte er aufmunternd, doch Lakrans Unsicherheit schien viel tiefer zu sitzen, als Palk für möglich gehalten hätte. Obwohl er keine Ahnung hatte, inwiefern Yurenas bereits mit Lakran in Kontakt gekommen war, war er überzeugt, dass dessen schlechter Ruf seinem Mentor nicht entgangen war. Eventuell wusste dies auch Lakran, denn dann war seine Nervosität durchaus berechtigt.

Sie hatten die zweiflügelige Tür noch nicht ganz erreicht, als ihnen der Älteste Yurenas auch schon entgegenkam und Lakran etwas misstrauisch musterte.

"Da bist du ja wieder, mein Junge", grüßte er Palk, wandte den Blick aber gleich wieder Lakran zu. "Was machst du hier mit diesem jungen Mann?", fragte er und Lakran versuchte, Sicherheit in sein Gesicht zu bringen. Doch seine Körpersprache verriet seine wahren Empfindungen.

"Ältester Yurenas, ich habe einen möglichen Begleiter gefunden, wie ich es gesagt habe", meinte Palk und lächelte seinen Mentor an. Der verzog leicht das Gesicht. Eine Geste, die sich für ein Mitglied des großen Ältestenrates absolut nicht gehörte und für die er von seinen Kollegen ganz sicher gerügt worden wäre, hätten diese es gesehen.

"Bist du sicher? Du willst Lakran mitnehmen? Hast du dir das auch gut überlegt, Junge?", fragte er, wobei er sich mehrfach durch den langen Bart fuhr.

"Selbstverständlich", entgegnete Palk mit einem optimistischen Lächeln. "Unsere Differenzen dürften wir so langsam in den Griff bekommen haben."

"So langsam", murmelte Yurenas skeptisch, doch Palk hob beschwichtigend die Hände.

"Lakran ist kein schlechter Typ, wirklich", beteuerte er. "Er kämpft nur gegen seine inneren Dämonen und hat genau so Schwächen wie jeder von uns. Ich denke aber, dass er wirklich in Ordnung ist", versicherte er und Lakran brachte ein dünnes Lächeln zustande. Er verstand zwar nicht, woher Palk seine Gedankengänge nahm, doch in diesem Moment war er mehr als dankbar dafür. Selbst hätte er nie den Mut gehabt, Yurenas die Stirn zu bieten und dennoch höflich und selbstbewusst zu wirken. Eine seiner Schwächen bestand nämlich darin, seine Manieren zu vergessen, wenn ihn jemand in Bedrängnis brachte, vor dem er ohnehin schon keinen guten Stand hatte. Dazu reichte es auch, wenn Lakran bloß davon ausging.

"Soso", meinte Yurenas nur und ging voraus in den Versammlungsraum, den man auch gut und gerne als Thronsaal hätte beschreiben können. Diese Bezeichnung lehnten die Ältesten jedoch strikt ab. Noch immer saß Ältester Uvāri auf seinem prächtigen Stuhl und hatte die Hände auf dem Bauch gefaltet. Yurenas war offenbar selbst gerade erst eingetreten, denn er gab seinem Kollegen die Hand, bevor er ebenfalls Platz nahm.

"Guten Tag, Ältester Uvāri", grüßte Palk freundlich und die beiden jungen Männer verbeugten sich leicht. Lakran konnte mit Mühe und Not vermeiden, sich den Schock über die Anwesenheit seines Großvaters anmerken zu lassen. Der alte Mann gab ihm immer das Gefühl, unzureichend zu sein und seine unübersehbare Enttäuschung über Lakrans Entwicklung, ärgerte diesen. Jedenfalls genug, um ein direktes Gespräch in der Öffentlichkeit tunlichst zu vermeiden.

Palk hatte bisher nur selten das Vergnügen gehabt, mit Uvāri direkt zu sprechen, sich aber schon vor längerer Zeit ein ungefähres Bild von diesem gemacht. Nicht zuletzt weil Uvāri ihn wie kein anderer an seinen eigenen Ziehvater erinnerte. Er war in etwa genau so groß, hatte dieselbe Statur und sogar die Haare trug er ganz genau wie Yurenas. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte Palk die beiden für Brüder gehalten. Zu unterscheiden waren die alten Herren immerhin dadurch, dass Uvāris Haare und Bart grau waren und er goldbraune Augen hatte. Auch sah man ihm an, dass er bereits in seinen dritten Vierzigern war. Die doch etwas eitlen Herren zogen es vor, ihr jeweiliges Alter von deutlich über 200 Jahren nicht ganz so direkt zu nennen und nach jeder Hundert von vorn anzufangen.

Palk - Finde dein Schicksal [Überarbeitung seit 08.2023]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt