eins

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"Ich habe dir etwas zu sagen.", kündigt Mum verschwörerisch an, als wir abends gemeinsam beim Abendbrot sitzen. Ich runzele die Stirn.

"Okay. Und was?", frage ich nüchtern. Mum macht sonst nie ein großes Geheimnis aus ihren Angelegenheiten oder redet um den heißen Brei herum. In der Regel kommt sie direkt zum Punkt.

"Wir werden umziehen."

Ich verschlucke mich fast an meinem Brot, dann würge ich den Bissen herunter und starre sie fassungslos an. "Wir werden... was?"

Mum lächelt verlegen und zuckt mit den Schultern. "Ja, wir werden umziehen."

Mein Mund bleibt offen stehen. Ich kann und will nicht glauben, dass sie das gerade ernst meint. "Wieso? Und wohin? Und... wann?", stelle ich die wichtigsten drei der tausend Fragen, die mir in diesem Moment im Kopf umherschwirren.

Mums Lächeln weicht nicht aus ihrem Gesicht, auch wenn sie hundertprozentig gemerkt haben muss, dass ich von dieser Neuigkeit eigentlich nicht so begeistert bin. "Du weißt doch, dass ich James kennen gelernt habe im letzten Jahr. Und es ist auch eine schöne Fernbeziehung, aber wir haben beschlossen, dass es mit uns nur dauerhaft funktionieren kann, wenn wir den nächsten Schritt gehen und wir bei ihm einziehen."

"Im Ernst?" Ich bin fassungslos. Ja, ich weiß, dass Mum jetzt schon seit geraumer Zeit mit diesem James zusammen ist, das ist mir nichts Neues. Doch ich war fest davon ausgegangen, dass diese Beziehung spätestens in ein paar Wochen auch wieder zu Ende sein wird. So ist es nämlich normalerweise.

Meinen Vater kenne ich nicht - und meine Mum auch nicht, um genau zu sein. Das heißt, sie kennt ihn wahrscheinlich schon, jedenfalls hatte sie Sex mit ihm. Aber das war in ihrer wilden Studentenzeit und da hatte sie laut eigener Aussage mit ziemlich vielen Typen Sex, auch gerne mal im betrunkenen Zustand. Wer von diesen Typen mein Vater war, ist ihr selbst nicht klar. 

Fakt ist, dass  mein Dad ziemlich dominante Gene gehabt haben musste, denn mit meiner Mutter habe ich so gut wie gar nichts gemeinsam. Meine Mum ist groß und stolz auf ihre Kurven, verrückt, dunkelhaarig, sexy, verführerisch, immer auf der Suche nach Männern, sie macht einfach ihr Ding. Sie hat zwar Ingenieurswesen studiert (wegen der heißen Typen, wie sie immer wieder betont), doch schreibt nun Frauenratgeber, in denen es entweder um Selbstbewusstsein, Esoterik oder auch gerne mal um bessere Orgasmen geht.

Ich bin das komplette Gegenteil. Ich bin klein, dünn und rothaarig, wo andere Mädchen in meinem Alter von 15 Jahren Brüste haben, ist bei mir nur Flachland. Ich bin alles andere als sexy oder verführerisch, stattdessen war ich immer schon die graue Maus. In der Schule werde ich ausgelacht statt bewundert. Ich bin eine ziemliche Streberin, doch Bildung und gute Chancen für die Zukunft sind mir einfach wichtig. Ich habe meine Kindheit bei meiner Oma verbracht, da Mama damals noch nicht zu Hause gearbeitet hat. Oma ist gläubig, spießig und prüde, also genau wie ich. Ich bin seit ich klein bin Messdienerin und im Kirchenchor. Ich mag die Gemeinde, meine Freunde habe ich dort und nicht in der Schule. Andere in meinem Alter feiern wilde Partys, ich verbringe meine Zeit lieber mit dem Chor oder meiner Messdienergruppe.

"Ich hätte es dir ja früher gesagt, aber wir haben es sehr spontan entschieden.", sagt Mama und holt mich damit aus meinen Gedanken.

"Wieso... Wann ziehen wir denn dahin?", frage ich vorsichtig nach.

"Übernächste Woche schon. James bereitet gerade alles in seinem Haus vor."

Ich schaue sie entsetzt an. Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein. "Übernächste Woche? Ich habe hier meine ganzen Freunde!"

Mum sieht mich zerknirscht an. "Das weiß ich doch, Schätzchen. Aber du wirst mit deinen Freunden in Kontakt bleiben können und dort sicher auch schnell neue Freunde finden."

Ich schnaube. Mum weiß selbst genau, wie schwer es mir fällt, Anschluss zu finden. In der Schule mochte mich niemand. Nur in der Kirchengemeinde habe ich ein paar Leute gefunden. Doch ob es das in meiner neuen Heimat auch geben wird? "Wo wohnt der James denn überhaupt?"

Mamas Augen beginnen zu leuchten. "Am Meer!"

Auch in mir flackert kurz Freude auf. Es war schon immer ein absoluter Traum von mir, eines Tages am Meer zu wohnen. Doch eigentlich hatte ich damit mindestens bis zu meinem Schulabschluss warten wollen. "Wo denn genau?"

"In Key West, Florida. Eine traumhafte Stadt, wirklich, wunderschön!" Mama klingt begeistert.

Ich habe schon einmal von dieser Stadt gehört, sie soll wirklich wunderschön sein. Kein Vergleich zu dem Städtchen, aus dem wir kommen. Wir wohnen auf dem Land in einem kleinen Kaff, in dem es wirklich fast gar nichts gibt. Von Landidylle ist hier keine Spur. Die Küste Floridas liegt allerdings ein ganzes Stück entfernt von hier, das dürften mit dem Auto mindestens zehn Stunden sein. Ich stöhne genervt auf. "Mum... Ich will hier nicht weg."

Mum schaut mich etwas mitleidig an. "Ich weiß ja, Spätzchen, aber es wird dir gefallen dort. Außerdem ist jetzt der perfekte Zeitpunkt. Du bist doch gerade erst an der Highschool, es ist noch früh genug, neue Freunde dort zu finden."

Ich seufze. "Die kennen sich da jetzt schon alle und ich bin die, die neu dazu kommt."

Mum seufzt ebenfalls. "Das wird schon. Sonst gibt es dort bestimmt auch eine Kirchengemeinde, in der du nette Leute kennen lernen kannst."

"Mhm.", mache ich. Das ist tatsächlich auch meine Hoffnung. Ich habe keine Lust, Mum weiter zu widersprechen. Außerdem will ich ihr die Stimmung nicht kaputt machen. Ich freue mich eigentlich sehr, dass sie endlich mal einen Mann kennen gelernt hat, mit dem es etwas Ernstes ist. Seit ich denken kann, hat Mum ständig neue Beziehungen, die aber in der Regel nicht länger als ein Jahr dauern. Diesmal scheint das anders zu sein.

"James hat ein tolles Haus, wirklich, ein wahnsinnig tolles Haus. Sehr groß, hell, riesiger Garten und große Zimmer. Du wirst dich dort wohl fühlen.", versucht Mum mich zu überzeugen.

Ich mühe mir ein Lächeln ab. Das Haus, in dem wir hier wohnen, ist alles andere als groß und hell. Da wir nur zu zweit sind, hat Mum damals das erstbeste Haus genommen: Es ist klein, hat lediglich zwei Stockwerke, und ist grau verputzt. Wir haben keinen Garten, nur einen winzigen Vorgarten. Mein Zimmer besteht aus einem kleinen Bett, einem winzigen Kleiderschrank und meinem Schreibtisch. Es ist alles nichts Besonderes und andere Menschen würden unser Haus als hässlich bezeichnen, aber mir war das immer egal. Ein Haus ist mir eigentlich nicht wichtig. Doch die Aussicht auf einen großen Garten finde ich schon schön.

"Was macht James eigentlich beruflich?", frage ich. Mir fällt auf, dass ich rein gar nichts über ihn weiß. Ich habe mir irgendwann abgewöhnt, nach Details über Mums Liebhaber zu fragen. Doch jetzt ist es wohl mal an der Zeit, etwas über ihn herauszufinden.

"Er ist Neurologe.", sagt Mum stolz und ich muss anerkennend nicken. Nicht schlecht. "Er verdient auch wirklich gut."

"Ui.", sage ich. "Klingt gut. Deshalb so ein großes Haus."

Mum nickt. "Genau. Außerdem hat er geerbt. Seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben und sie war reich."

"Oh.", mache ich, halb beeindruckt, halb erschüttert von der toten Ehefrau. "Und wie alt ist er?"

"Er ist 45.", sagt Mum. "Und wirklich wahnsinnig gutaussehend für sein Alter. Er könnte auch Mitte 30 sein. Und noch so fit."

Ich bin ziemlich beeindruckt - Mum scheint sich da ja einen echten Traummann geangelt zu haben. Ich möchte mir da aber nicht zu viele Hoffnungen machen, wer weiß, wie er dann in der Realität ist.

"Oh, und er hat einen Sohn.", ergänzt Mum noch. "Du wolltest doch immer Geschwister."

Da hat sie in der Tat Recht. Ich weiß zwar nicht, ob ich diesen Sohn irgendwann wie meinen Bruder sehen werden, doch gegen einen kleinen süßen Jungen im Haus ist sicher nichts einzuwenden.

"Na gut.", sage ich seufzend. Ich habe zwar immer noch absolut keine Lust, unser Dörfchen zu verlassen, doch ich möchte Mum ihr Glück auf keinen Fall zunichte machen. Ich sollte mich für sie freuen.

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Hey, ich freue mich, dass du auf dieses Buch gestoßen bist! Ich hoffe, das erste Kapitel gefällt dir! Für Kritik und Feedback bin ich immer offen:)


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