44. "Miese Bitch"

342 27 28
                                    

Jenny öffnete vorsichtig ein Auge nach dem anderen, es war noch recht dunkel draußen, die Sonne ging gerade auf. Sie setzte sich auf ihrer Rückbank auf und fuhr sich durch die Haare.

Eine Sekunde war sie ruhig, dann kamen die Erlebnisse des gestrigen Tages in ihr hoch und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Jenny traten die Tränen in die Augen und sie schniefte einmal.

Sie erinnerte sich, wie sie gestern zurück zu ihrem Pick-up gerannt und sofort losgefahren war. Erst einige Meilen später hatte sie am Straßenrand angehalten. Kaum hatte sie den Motor ausgestellt, waren ihr die Tränen übers Gesicht geströmt. Mit verschwommener Sicht war sie nach hinten auf die Rückbank geklettert. Sie fuhr sich mit einer Hand über ihr Knie, das sie sich bei der Aktion gestoßen hatte.

Wieder kullerten ihr Tränen über die Wangen. Sie zog ihre Beine an die Brust und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Ihre Schultern bebten, das Auto war erfüllt von ihrem Schluchzen. Es fühlte sich an, als ob ihr Herz von einem Schwert durchbohrt werden würde. Sie schüttelte sich in einem Heulkrampf und fiel auf die Seite. Warum tat es so weh?

Der Schmerz nahm ihr fast den Atem, sodass sie nach Luft schnappte und gleichzeitig nur noch mehr weinte. Von ihrem Herz aus schlich sich eine Kälte durch ihren ganzen Körper, die sie lähmte. Jenny lag dort, umklammerte ihre Beine, rührte sich nicht. Vielleicht würde der Schmerz sie einfach umbringen.

Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Geschockt fasste sie an ihren Hals, der sich aber ganz normal anfühlte. Jenny schnappte nach Luft, aber es schien nichts davon in ihrer Lunge anzukommen. Panisch setzte sie sich auf und griff nach der Rückenlehne des Sitzes vor sich.

Ganz langsam strömte wieder Sauerstoff in ihren Körper. Jenny atmete erleichtert aus, was eine neue Welle des Schmerzes durch sie sandte. Was hatte sie getan? Warum hatte sie das getan?

Weil sie nicht anders konnte. Es ging nicht. Es brach ihr das Herz, aber sie könnte niemals so für Liam da sein, wie er das wollte. Wie er das brauchte. Jenny konnte es nicht. Sie konnte sich nicht selber für Liam aufgeben.

Sie meinte zu spüren, wie seine Finger durch ihre Haare strichen. Ein leises Wimmern entkam ihren Lippen. Sie biss die Zähne zusammen und ließ den Tränen freien Lauf. Sie hatte es zerstört. Sie hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Jetzt hatte sie Liam verletzt, sie sah sein Gesicht vor sich, wie er sie angesehen hatte. Seine Mundwinkel nach unten gerichtet, seine Augenbrauen zusammengezogen und seine Augen, in denen sie ihr eigenes gebrochenes Herz sehen konnte. Es war ihre Schuld.

Jenny schluchzte, während ihr Herz sich selber in immer kleinere Einzelteile zerriss. Es war alles ihre Schuld. Warum war sie so dumm gewesen? Es war doch von Anfang an klar gewesen, wie es enden würde. Und jetzt gingen sie beide daran kaputt.

"Scheiße", fluchte Jenny stimmlos und hob ihren Kopf. Was sollte sie jetzt bloß machen? Wo sollte sie hin? Liam tauchte in ihrem Kopf auf, zog sie an wie ein Magnet. Sie wollte zu ihm, aber das konnte sie nicht.

"Scheiße, scheiße, scheiße!" Jennys Stimme wurde immer lauter und sie schlug gegen den Sitz vor sich. Warum war sie so dumm gewesen? Sie hätte niemals solche Gefühle entwickeln dürfen. Es war falsch und sie konnte es nicht. Sie konnte ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben, nicht für jemand anderen. Nicht einmal für Liam. Sie hatte sich geschworen, niemals so zu fühlen, wie sie es gerade tat. Sie hatte Scheiße gebaut. Und da gab es nur eine Person, der sie das erzählen konnte.

Jenny sah auf die Uhr und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Es war Samstag, das passte gut. Jenny trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und holte sich einen Pullover aus dem Regal auf ihrer Ladefläche. Trotzdem saß sie dann zitternd auf dem Fahrersitz und schnallte sich an.

Jenny atmete tief durch, sie musste sich konzentrieren, um fahren zu können. Das Auto jetzt um den nächsten Baum zu wickeln war auch keine Lösung. Jenny presste ihre Lippen aufeinander und blinzelte, während sich noch zwei Tränen aus ihren Wimpern lösten. Es ging nicht. Jennys Hände bebten, ihre Konzentration war im Arsch.

"Fuck!", schrie sie und schlug gegen ihr Lenkrad. Jenny startete den Motor und drückte aufs Gaspedal. Der Pick-up sprang an und brauste los. Jenny wusste, dass sie zu schnell fuhr, aber sie konnte nicht anders. Sie brauchte etwas, um Liam aus ihrem Kopf und den Schmerz aus ihrem Herz zu verbannen.

Sie fuhr durch New Jersey, bis sie an einem Fluss ankam, der wahrscheinlich bald im Atlantik münden würde. Jenny ging vom Gas und hielt bald darauf am Wasser an. In diesem Teil von Amerika war man nie weit von den nächsten Häusern entfernt, aber Jenny hatte eine Stelle erwischt, wo sie recht alleine war und direkt ans Wasser kam.

Sie rutschte aus ihrem Auto und schleppte sich zum Wasser, wo sie auf die Knie fiel. Neue Tränen benetzten ihr Gesicht und sie schniefte. Sie tauchte ihre Hände unter, sammelte Wasser darin und klatschte es sich ins Gesicht. Das Wasser rann ihren Hals entlang in ihren Ausschnitt und wurde dort von ihrem Pulli aufgenommen.

Jenny schaute zur Seite und sah die Sonne, die noch tief über dem Horizont stand. Sie tauchte alles in ein magisches Licht. Jenny würde es lieben und bis ins letzte genießen, wenn ihr Herz nicht in Scherben vor ihr liegen würde. Irgendwo dort, östlich von ihr, da lag Europa, Großbritannien, London. Irgendwo dort war Liam.

Jenny schnaubte und verfluchte die Sonne. Sie wünschte sich Gewitter und Hagel. Es sollte aus Kübeln schütten. Aber die Sonne strahlte hell, als wollte sie Jenny unter die Nase reiben, dass die Welt wunderschön war, aber sie ihr eigene zerstört hatte.

"Miese Bitch", knurrte Jenny der Sonne entgegen, die das aber nicht kümmerte. Jenny senkte ihren Blick wieder und sah ihr Spiegelbild im Wasser. Sie war völlig verheult, ihre Haare waren ein wirres Chaos, ihre Augen glitzerten noch gefährlich. Sie sah furchtbar aus, fand Jenny und verzog ihr Gesicht. Wie konnte sie wegen jemand anderem so aussehen? Sie wollte genau das immer verhindern, dass andere solche Wirkungen auf sie hatten, dass sie abhängig von ihnen wurde.

Jenny schlug mit ihrer flachen Hand auf ihr eigenes Spiegelbild, das in den kleinen Wellen verschwand. Sie machte ihr Gesicht noch einmal nass, dann wischte sie sich mit ihrem Ärmel darüber und seufzte. Was hatte sie nur getan?

Jenny schlich zurück zu ihrem Auto und setzte sich hinein. Mit versteinertem Gesichtsausdruck schnallte sie sich an und startete den Motor. Diesmal blieb sie unter dem Tempolimit. Jennys Kopf brummte, aber der stechende Schmerz in ihrer Brust ließ sie nicht zur Ruhe kommen.

Sie wollte schlafen, nichts mehr fühlen, sich betäuben, aber sie konnte nicht. Dieser Schmerz würde sie immer daran erinnern, dass sie es verkackt hatte.

###

Oh Mann, Jenny geht es echt nicht gut... Was denkt ihr, wo sie jetzt hinfährt?

Whirlwind [One Direction]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt