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Ich seufze und schaue in den breiten Spiegel, welcher sich rund um die Wände des Aufzugs verzieht. Meine dunkelbraunen, langen Haare sind mittlerweile zu einem wirren Dutt zurück gebunden, zusammen mit den teils wirklich dunklen Augenringen und dem abgetragenen Lippenstift lässt mich das um einiges Müder aussehen, als ich es eigentlich bin. Der enge, schwarze und knielange Rock betont meine Kurven recht deutlich, der dazugehörige Blazer lässt mein Outfit aber gleichzeitig doch wieder seriös wirken. Mir ist bewusst, dass ich mir ausgefallenere Sachen zulegen sollte, die nächsten Jahre werde ich nämlich noch so einige Tage, Wochen und Monate in der Kanzlei oder im Gericht verbringen. Mit meinen 1,61 cm gestaltet sich die Suche nur etwas schwieriger als gedacht, und jedes Unterteil wandert unverzüglich zum Schneider.
Ich schultere meine Tasche und laufe mit einem Gähnen den Gang entlang, bis mich die kalte Luft trifft. Erleichtert seufze ich und schaue mich um. Es ist dunkel, stockduster. Natürlich ist es das. Mittlerweile sollte es kurz nach zehn am Abend sein und vor nichtmal fünf Minuten bin ich endlich mit dem letzten Schreiben fertig geworden und konnte somit guten Gewissens die Kanzlei als Vorletzte verlassen. Ich laufe quer über den Parkplatz und schließe mein Auto auf, nur, um mich kurz darauf in das dunkelrote Leder sinken zu lassen. Langsam streife ich mir die schwarzen Louboutins ab, die mir seit heute früh schon Schmerzen bereiten. Die Pantoletten von meinem Rücksitz ziehe ich stattdessen an und starte den Motor, um erstmal nach Hause zu kommen. Im Nachhinein betrachtet war Jura zu studieren nicht die einfachste Entscheidung. Dennoch bin ich zufrieden. Das Team in der Kanzlei in der ich meine Praktische Zeit absolviere, ist größtenteils sehr freundlich. Mit meinen 19 Jahren bin ich zwar die jüngste, und neben Liam auch die einzige, unter 25, aber selbst Diane ist mit ihren 53 Jahren noch fit und jugendlich geblieben, so, dass es keinerlei Probleme gibt. Das laute Hupen reißt mich aus meinen Gedanken und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich.
Verwirrt schaue ich durch den Rückspiegel, da ich mir keines Fehlers bewusst bin. Weil das Gehupe nicht aufhört, lasse ich das Fenster runter fahren und hupe ebenfalls ein paar Mal. Die gesamte Fahrbahn ist frei, niemand, wirklich niemand, abgesehen von mir und dem Wagen hinter mir, ist in Sichtweite. Wo also das Problem liegt, weiss ich also nicht.
"Aggressives Arschloch.",murmel ich und strecke halte meinen Mittelfinger raus, als das schwarze Auto an mir vorbei rast.
Ich schüttel entgeistert den Kopf. Für sowas bin ich tatsächlich nicht in der Laune. So überhaupt nicht. Immerhin bin ich seit sieben wach, seit acht auf den Beinen und an dem Punkt, an dem ich vollen ernstes sagen kann, dass ich nichtmal Lust habe, mich über irgendeinen Idioten auf zu regen. Davon abgesehen habe ich mich mittlerweile damit abgefunden, dem ein oder anderen unfreundlichen New Yorker zu begegnen. Letztenendes sind wir alle nur gestresst von den überfüllten Geschäften und den langen Arbeitstagen, die wir hinter uns zu bringen haben. Ich biege in meine Straße ein und parke kurz darauf den kleinen Fiat auf dem Parkplatz, auf dem ich jeden Abend meinen Platz finde. Meine Pumps nehme ich in die Hand, schultere meine Tasche das zweite Mal in der letzten halbe Stunde, um ohne jeglichen Hindernisse mein Auto verlassen zu können. Seufzend knalle ich die Türe zu und schluffe zu dem großen Gebäude auf der anderen Straßenseite. Gerade als ich die Haustür aufschließen möchte, wird diese von innen geöffnet. Der Hausflur ist dunkel, die Gestalt vor mir somit nur schwach zu erkennen. Trotzdem wird mir die Türe auf gehalten, weswegen ich überrascht meine Augenbraue hoch ziehe.
"Dankeschön."
Ich schiebe mich in Richtung des Aufzugs und betätige den Knopf meiner Etage. 11 Stockwerke, somit hab ich die Wohnung im Dachgeschoss. Und damit bin ich mehr als zufrieden. Im Sommer weckt mich schon früh Morgens die Sonne, während sich im Winter die ein oder anderen Schneeflocken durch den Schlitz meines Fensters drängen.
Erneut seufze ich, erleichtert darüber, dass das typische Geräusch des Aufzugs ertönt, welches mir verrät, dass ich aussteigen kann. Ich schließe die Wohnungstüre auf und knalle diese sofort wieder hinter mir zu. Meinen Blazer lasse ich schlichtweg auf den Boden sinken, immerhin ist es Wochenende, und zwei Mal hintereinander mit dem selben Outfit an zu kommen ist recht unangemessen. In meinen Augen zumindest. Tasche und alles andere, was den Platz in meinen Händen einnimmt, lasse ich ebenfalls auf dem Boden nieder bevor ich die lichter überall anschalte und ins Badezimmer schluffe. Ich streife die durchsichtige Strumpfhose ab und lasse diese in die Mülltonne fliegen, weil sie im laufe des Abends,wie so oft, eine Masche abbekommen hat. Mit einem Gähnen lasse ich mich auf den Rand meiner Badewanne nieder. Ich entsperre mein Handy und schreibe meiner besten Freundin nur kurz, dass ich zwar gut zu Hause angekommen bin, aber unser Gespräch auf morgen verschieben muss. Hannah studiert selber, zwar Medizin, trotzdem weiss ich, dass sie das verstehen wird. Natürlich wird sie das. Auch wenn unser Kontakt etwas weniger geworden ist dadurch, dass wir beide so viel um die Ohren haben, ist sie seitdem ich hier in New York bin meine einzige richtige Freundin, eher auch sowas wie meine Schwester mit der Zeit geworden und neben Liam tatsächlich auch meine einzige richtige Bezugsperson, hier in New York. Klar, Mom und Dad, ein paar Bekannte von früher hab ich auch noch, diese leben aber alle nach wie vor in Zürich und somit ein paar Stunden Flug weiter weg. Ein Problem hab ich damit aber nicht. Ich bin hierher, um meinen Traum zu verwirklichen, mein Leben zu leben und neu an zu fangen. Und dazu hab ich jetzt nunmal die Chance.

Maybe.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt