#12 Immer schwächer

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POV Lexi Falkner

Es war bereits Montag, doch ich hatte nicht vor, zur Schule zu gehen, darum schrieb ich meiner besten Freundin, dass ich krank sei. Ich hasste es, sie anzulügen, doch das war ja eigentlich nicht mal eine Lüge, denn ich fühlte mich so elend wie schon lange nicht mehr. Mein Gesicht war blass, meine Augenringe größer als je zuvor und ich zitterte am ganzen Leib. Ich hatte keinen Appetit und meine Hand schmerzte und pochte unaufhörlich, sodass ich alle paar Stunden den Verband wechseln musste. Ich hatte sie gestern dann noch verarztet, weil sie total geschwollen war und ich eine Entzündung vermeiden wollte, doch ich hatte das böse Gefühl, dem käme ich trotzdem nicht aus.

So lag ich nun in meinem Bett und starrte an die Decke. Geschlafen hatte ich die letzte Nacht immer nur so zwanzig unruhige Minuten, dann hatte mich entweder der Schmerz geweckt, oder eben dieser Traum, der nun nur noch präsenter und realer war, als all die Jahre zuvor, in denen er mich schon verfolgt hatte. Ich begann nun auch wieder zu schwitzen und gleichzeitig war mir kalt. Schüttelfrost. Das konnte nichts Gutes bedeuten, doch ich wollte nicht zum Arzt gehen. Ich würde das mit mir selbst ausmachen, ansonsten müsste ich nur unangenehme Fragen beantworten und ich hatte wirklich keine Lust darauf, mir sagen zu lassen, dass ein Psychologe meine Probleme lösen könnte. Das war bereits nach Julies Tod passiert und ich hatte es damals auch wirklich versucht und war zumindest von der Selbstverletzung weggekommen, doch besser war es mir keineswegs gegangen. Ich hatte einfach nur den Schmerz unterdrückt und beiseitegeschoben, ganz so wie es die Gesellschaft verlangte. Dass er nun sicher doppelt so stark zurückkehrte, hatte ich ja nicht ahnen können.

Soll ich vorbeikommen? Brauchst du irgendwas?

Tina war einfach zu gut für diese Welt.

Nein danke, alles okay. Ist wirklich nicht nötig, ich brauche einfach nur Ruhe und dann wird das schon wieder.

Ich wusste selbst, wie falsch meine Worte waren, denn mit Ruhe würde hier gar nichts wieder werden. Seelischer Schmerz, Trauer, ließen sich nicht durch ein wenig Herumliegen kurieren. Und doch hatte ich nicht die Kraft dazu, aufzustehen.

Lexi, ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Wir wissen beide, dass du nicht wegen einer einfachen Erkältung zuhause bleibst...

Sie kannte mich eben einfach zu gut. Ich war nicht der Typ, der schnell flachlag. Ich war zwar häufig einfach daheim geblieben, wenn ich einen Tag für nicht sinnvoll erachtet hatte, doch damit ich zu Hause blieb, wenn ich krank war, musste schon etwas Gröberes geschehen. Nach dem Tod meiner Schwester war ich ganze zwei Monate nicht zur Schule gekommen und Tina hatte das natürlich auch alles mitbekommen. Sie hatte mich damals täglich besucht und war mir und auch meiner Mutter eine große Stütze in dieser schweren Zeit gewesen. Trotzdem wollte ich mit ihr jetzt nicht über den Brief reden. Vielleicht würde ich ihr das irgendwann erzählen, aber jetzt wollte ich keinen sehen und mit keinem sprechen. Außerdem musste ich nicht auch noch andere Leute mit meinem Problemen belasten.

Tina, vertrau mir bitte einfach. Mir geht es nicht gut und ich möchte mich einfach nur ausruhen. Aber danke, dass du dich so um mich sorgst, das weiß ich zu schätzen.

Sobald ich die Nachricht abgeschickt hatte, dämmerte es mir: Was, wenn meine Schwester das genau gleich gemacht hatte? Sie hatte immer gemeint, sie sei einfach nur müde nach der Schule und hatte sich dann in ihr Zimmer verzogen. Was, wenn auch sie ihre Freundinnen abgewimmelt hatte, wie ich es bei Tina gerade getan hatte? Ein mulmiges Gefühl stieg in mir auf und ich wusste nicht, ob es von meiner Erkenntnis kam, oder ob ich wirklich krank wurde und mich übergeben müsste. Ich sprang jedenfalls auf und eilte auf wackeligen Beinen ins Bad, nur um meinen sowieso nur mit Wasser gefüllten Magen dann über der Kloschüssel noch weiter zu entleeren.

Wieder zurück in meinem Zimmer, ließ ich mich erschöpft auf mein Bett fallen. Ich hatte das Bedürfnis, zu schlafen, doch ich hatte gleichzeitig Angst davor. Ich fühlte mich schwach, ganz klein, wie eine Sechsjährige, die sich ihre Mutter herbeisehnte. Meine Mutter. Sie hatte mir nur geschrieben, dass sie angekommen waren, doch ich hatte ihre Nachricht einfach ignoriert. Ich war zornig. Und enttäuscht. Vor allem enttäuscht, denn hätte sie mir den Brief früher gezeigt, hätte ich mir nicht ständig diese Fragen gestellt. Wie hatte so etwas passieren können? Wie konnte man einfach ertrinken? Warum hatte es genau meine Schwester getroffen? Jetzt wusste ich, dass das alles kein Zufall gewesen war, doch dass das meiner Mutter die ganze Zeit über bewusst gewesen war, machte mich einfach so unglaublich wütend. „Nein Lexi, du musst dich in den Griff kriegen. Du musst dich beruhigen. Atmen, Lexi, atmen", murmelte ich mir vor. Es war wie ein Mantra, ich wusste, nur wenn ich das laut aussprach, würde mein Kopf realisieren, dass es zu nichts führte, den Spiegel in meinem Zimmer auch noch in tausend Einzelteile zu zerschlagen. Ich wusste, ich musste stark bleiben. So wie es Julie geschrieben hatte. Ich musste ihr beweisen, dass ich stark war.

Es war nun wieder Abend geworden und mit der Sonne, die am Horizont untergegangen war, hatten meine Ängste vor der Nacht und davor, was sie mit mir diesmal anstellen würde, wieder zugenommen. Mein Schüttelfrost war nur noch schlimmer geworden und ich hatte mir vorgenommen, morgen zum Arzt zu gehen. Man könnte doch alles wie einen Unfall aussehen lassen. Und dann, in der Hoffnung, kommende Nacht wenigstens nur einmal von diesem schrecklichen Traum geweckt zu werden, schlief ich auch wirklich ein. Mein Körper war ausgelaugt, er schien das echt zu brauchen.

Am nächsten Morgen wurde ich von der zur Abwechslung wieder mal strahlenden Sonne geweckt. Ich hatte bis auf etwa dreimal wach werden eigentlich recht gut geschlafen, was mich wunderte. Trotzdem fühlte ich mich erschöpft. Mein Arm tat immer noch unglaublich weh und ich wusste tief in mir drinnen, wenn ich noch länger warten würde, würde das nicht gut ausgehen. So zog ich mich also im Schneckentempo an und verließ das Haus. Die Arztpraxis meines Hausarztes war zum Glück nur wenige Gehminuten von mir zuhause entfernt und doch schlich ich dahin, sodass ich sicher eine halbe Stunde unterwegs war. Ich legte gefühlt alle fünf Schritte eine Verschnaufpause ein und so kam ich dann gegen Mittag auch erst an. Die Frau im Wartezimmer war wirklich nett und bat mich, ein bisschen Platz zu nehmen, wenig später war ich endlich dran.

„Und wie ist das passiert?" Ich schluckte. Ich hatte mir eine Geschichte zurechtgelegt, doch würde er mir das glauben? Ich war immerhin stets die Patientin mit den Aggressionsproblemen gewesen. „Ich bin gestolpert und wollte mich auffangen, habe dabei aber mit meiner linken Hand versehentlich gegen den Spiegel geschlagen. Der ist zersprungen und weil ich mich nicht mehr halten konnte, bin ich hingefallen und habe, so tollpatschig wie ich bin, genau in die Scherben gegriffen... Ich dachte eigentlich, diese paar Schnitte würden bald wieder verheilen, darum habe ich mir nur selbst einen Verband gemacht, doch irgendwie fühlte ich mich heute dann extrem schwach und bin dann sicherheitshalber doch hergekommen." Er schien kurz nachzudenken und ich hatte eigentlich erwartet, er würde mir seine Zweifel an meiner Geschichte kundtun, stattdessen antwortete er aber nur: „Es war eine gute Idee, herzukommen, denn die Wunde hat sich bereits entzündet und wenn Sie länger gewartet hätten, hätten Sie vermutlich eine Sepsis riskiert. Ich verschreibe Ihnen ein Antibiotikum und etwas gegen die Schmerzen. Gönnen Sie sich noch ein wenig Ruhe und dann sollten Sie in ein paar Tagen wieder fit sein." Ich bedankte mich und verließ den Behandlungsraum. „Toll Lexi, mit deiner Dummheit hättest du dir auch noch eine Blutvergiftung geholt", dachte ich verärgert, holte mir dann aber die Medikamente aus der Apotheke und machte mich träge wieder auf den Heimweg.

Wie geht es dir heute?

Tina hatte wieder geschrieben und ich war ihr diesmal schon um Ecken wohlgesinnter. Ich war froh, auf sie zählen zu können.

War gerade beim Arzt. Er hat mir ein Antibiotikum verschrieben und dann sollte ich bald wieder fit sein. Wenn es mir besser geht, komme ich morgen wieder in die Schule.

Ich hatte mir den ganzen Nachmittag über überlegt, ob es denn sinnvoll wäre, ein wenig Ablenkung zu bekommen, denn ich brach immer wieder unter Heulkrämpfen zusammen und versank in Selbstmitleid. Wenn ich in der Schule wäre, ginge es mir vielleicht wieder besser. Ich hasste es, Zeit für meine negativen Gedanken zu haben, doch das war ja gerade der Teufelskreis: Ich hatte Zeit zum Nachdenken, weil ich mich nicht stark genug fühlte, um zur Schule zu gehen und ich fühlte mich nicht stark genug dazu, weil mich meine Gedanken so runterzogen. „Ich lege mich jetzt ins Bett und schlafe. Irgendwann wird mir das doch bitte gelingen!", befahl ich meinem Körper indirekt und dann schloss ich auch schon meine Augen, denn die Lider waren bereits unglaublich schwer gewesen...

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt