#53 Mittagessen bei Mama

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POV Lexi Falkner

„Ich gehe nirgendwo hin." „Lexi, ich weiß, dass es dir verdammt scheiße geht, aber du hast es mir versprochen! Du hast mir versprochen, dass du es versuchst!" Ich rollte mich auf die andere Seite des Bettes, um Tina nicht mehr ansehen zu müssen. Ich hatte Weihnachten bei ihr und ihrer Familie verbracht, die mich schon immer wie eine zweite Tochter aufgenommen hatten. Sie hatten nicht nachgefragt, Tina hatte ihnen nur erklärt, dass ich mit meiner Mutter gerade nicht so gut konnte und ab da war kein Wort mehr über den Grund für meine Anwesenheit gefallen. Wenn ich nicht in meinem schwarzen Loch versank, in dem sowieso alles schlecht war, dann erkannte ich rückblickend, dass sie sich sogar gefreut hatten, mich dabei zu haben, wofür ich sehr dankbar war. Jetzt hatte ich Tina aber versprochen, mich wieder mal bei meiner Mutter zu melden. Sie war nämlich der Meinung, ich sollte unseren Streit und die Probleme im alten Jahr lassen und neu anfangen. Ich war aber noch nie ein Fan von guten Vorsätzen und Neuanfängen gewesen, weshalb mich das herzlichst wenig interessierte. Das war eben mein Leben. Menschen kamen und gingen, verließen mich, wandten sich von mir ab, belogen mich, nahmen sich das Leben. Ich war es gewohnt, also wieso sollte ich plötzlich versuchen, all diese gescheiterten Beziehungen zu retten? Das kostete bloß Kraft und die hatte ich im Moment sowieso nicht. Außerdem, ohne die Aussicht auf Erfolg brauchte ich ja gar nicht erst damit beginnen... „Lexi, sie hat dich zum Essen eingeladen und du hast zugesagt. Geh wenigstens hin und gib dem Ganzen nochmal eine Chance. Wenn du dich nicht wohlfühlst, kannst du immer noch gehen. Aber lass deine Mutter jetzt nicht hängen, sie war wirklich gerührt von deinem Anruf...", redete Tina mir erneut ins Gewissen. Es war ja nicht so, dass ich meine Mutter nicht vermisste. Das tat ich. Sehr sogar. Doch sie hatte mich einfach so sehr verletzt und ich wusste nicht, wie ich ihr je wieder vertrauen sollte. Wahrscheinlich hatte sie sich in den paar Monaten, in denen zwischen uns Funkstille geherrscht hatte, ein völlig neues Leben aufgebaut. Mit diesem Gerald, gegen den ich wie gesagt eigentlich nichts hatte, doch er war da gewesen, als ich es nicht war, also war ich eh schon ersetzt, oder? Ich teilte nun auch meiner besten Freundin diese Bedenken mit, doch sie antwortete mir bloß: „Eine Mutter ersetzt ihr Kind nicht einfach. Das hat immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen und der ist leer, wenn es nicht da ist. Zieh dich an und geh! Nur dieser eine Versuch, sollte er scheitern, verspreche ich dir, ich lass dich damit in Ruhe." Ich seufzte. „Wenn du meinst..." Dann begab ich mich wirklich aus dem Bett und schnappte mir eine Jeans und eine Bluse aus Tinas Kleiderschrank, den wir uns mittlerweile teilten, da sie meine Reisetaschen, die meine Ex-Freundin mir vor die Tür gestellt hatte, ausgeräumt und verstaut hatte. Sie hatte gemeint, mich würde es nur immer wieder an diese Frau erinnern, wenn sie hier rumstünden. Dass ich aber Tag und Nacht an nichts anderes dachte, das wusste sie natürlich nicht. Für sie wirkte es so, als ginge es mir bereits besser, doch innerlich war ich ein Wrack. Noch mehr als sonst. Ich war kaputt und das nur wegen Lucrezia.

„Ich hab dich lieb. Du schaffst das! Sollte echt etwas danebengehen, ruf an, ich hol dich sofort ab. Und jetzt rein mit dir, sie wartet sicher schon." Ich umarmte Tina noch und stieg dann aus ihrem Auto. Meine Hände schwitzten und mein Herz klopfte schnell gegen meinen Brustkorb. Ich war wirklich nervös. Nervös vor einem Mittagessen mit meiner eigenen Mutter in unserem eigenen Haus. Ich wusste nicht mal, ob ihr neuer Freund da war, doch es war mir eigentlich auch egal. Zumindest einer hier war die Liebe immerhin vergönnt.

So schritt ich nun eben über den Vorplatz in Richtung der Haustür, doch als ich sie erreicht hatte, wagte ich es nicht sofort, zu klingeln. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Tina noch nicht wieder gefahren war, erst als sie die Lichthupe betätigte und mir somit signalisierte, dass ich endlich anläuten sollte, nahm ich all meinen Mut zusammen und betätigte den Knopf. Dieses vertraute Geräusch im Haus ertönte dumpf und ich begann umgehend, zu zittern. War das die winterliche Kälte oder meine Angst? Mir blieb keine Zeit mehr, um darüber nachzudenken, denn hinter der Haustür erschien auch schon die Silhouette meiner Mutter, die diese kurze Zeit später öffnete und mich mit einem vorsichtigen Lächeln betrachtete. „Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst..." Ich musterte sie, versuchte mich dann aber ebenfalls an einem Lächeln, das wohl eher wie eine Grimasse aussehen musste, denn mir war einfach nicht nach Lachen zumute. Dann entgegnete ich ihr: „Wenn Tina nicht so hartnäckig gewesen wäre, hätte ich das vermutlich auch nicht getan..." Meine Mutter wurde umgehend traurig, ich sah es ihr an, dann blickte sie hinter mich zum Wagen meiner besten Freundin und lächelte ihr dankbar zu. Alles gut, es musste sich nicht jeder gegen mich verbünden und so fragte ich, um von Tina abzulenken: „Darf ich also reinkommen?" „Äh... Ja... ja sicher", stotterte meine Mutter ein wenig überfordert, hielt mir dann aber die Tür auf und ich trat ein. Es roch nach frischen Kräutern und gebackenem Käse. Meine Mama war eine begnadete Köchin und ich musst zugeben, dass ich ihre Gerichte vermisst hatte, umso hungriger wurde ich nun, als ich die Küche betrat und sah, dass sie mir mein Lieblingsessen gekocht hatte: Salat mit gebratenen Putenstreifen. Woher der Käsegeruch kam, wusste ich bis dato noch nicht, doch ich war mehr als zufrieden mit dem gefüllten Teller am Tisch. „Setz dich schon mal, ich hole noch zwei Gläser. Himbeersaft?" Ich nickte, während ich mich umsah. „Jetzt stell dich doch nicht so an, als wärst du hier noch nie gewesen. Du bist hier aufgewachsen und warst gerade mal ein paar Wochen weg!", maßregelte ich mich in Gedanken, nichtsdestotrotz blickte ich mich aber weiter um. Irgendetwas war anders. Ich konnte nur nicht sagen, was. „Hier, bitte. Lass es dir schmecken. Wenn du noch mehr Essig brauchst, sag Bescheid." Meine Mutter hatte mir gerade meinen Saft hergestellt und setzte sich nun zu mir. Es herrschte eine bedrückende Stille, die ich zu durchbrechen versuchte, doch mir fiel nichts ein, was ich ihr sagen könnte, obwohl zwischen uns doch so vieles unausgesprochen war. Irgendwann fasste ich mir aber ein Herz und stellte ihr zumindest eine Frage: „Wo ist Gerald denn?" Meine Mutter hielt inne und blickte mich aus großen Augen an, so als hätte sie nicht mal erwartet, dass ich mir überhaupt seinen Namen gemerkt hatte. Dann riss sie sich aber wieder zusammen und entgegnete vorsichtig: „Der arbeitet noch. Er kommt erst am Abend..." Ich nickte und widmete mich wieder meinem Essen, das wirklich ausgesprochen gut schmeckte. Irgendwann war aber auch der letzte Bissen der mit Käse überbackenen Nachos gegessen, die es zur Nachspeise gegeben hatte und damit gingen mir auch meine sinnvollen Beschäftigungen, die mich vom Sprechen abhielten, aus. Meiner Mutter schien es gleich zu gehen, denn sie sah mich nur ein wenig unsicher an, so als wolle sie etwas sagen, wüsste aber nicht, wie weit sie gehen konnte. Letztendlich war ich es, die diese unangenehme Situation aus der Welt schaffen wollte und so sprach ich: „Mama, wir sollten reden und uns nicht peinlich anschweigen. Wir sind doch keine Fremden, wieso verhalten wir uns also wie zwei?" Meine Mutter lächelte nun und nickte, dann entgegnete sie: „Du hast recht, Lexi. Ich habe dir dieses klärende Gespräch angeboten und wir sollten das auch wirklich führen... Es ist mir wichtig, dir auch meine Sicht der Dinge zu schildern, weißt du? Vielleicht verstehst du mich nicht, aber kannst meine offensichtlichen Fehlentscheidungen dann zumindest irgendwo nachvollziehen..." Ich musterte sie. Sie bereute ihren Umgang mit dem Abschiedsbrief also wirklich. Doch erklärt hatte sie mir immer noch nichts und ich wurde langsam ungeduldig. „Also?", bohrte ich nach. Sie wurde eine Zeit lang still, bis sie zu erzählen begann: „Als Julie... sich das Leben genommen hat, ist... meine Welt zusammengebrochen. Ich habe meine Tochter verloren, niemals hätte ich das auch nur zu denken gewagt! Und dass ich nicht gemerkt habe, dass es ihr nicht gutging, nagt bis heute schwer an mir. Das hätte mir doch auffallen müssen, ich war ihre Mutter! Trotzdem habe ich nichts gemerkt und das hat mich so sehr in dieses Loch gestürzt, dass ich nicht bemerkt habe, wie sehr meine zweite Tochter eigentlich darunter leidet. Ich war nicht da für dich anfangs, wie du dich sicher erinnerst. Ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich deine Probleme und Wege, damit umzugehen, nicht mal erkannt habe..." Ich unterbrach sie: „Das weiß ich, aber das halte ich dir auch nicht vor. Ich habe dir da nie einen Vorwurf gemacht, denn ich weiß, dass du mit dir selbst beschäftigt warst und das ist okay. Aber warum hast du mir den Brief nie gezeigt? So getan, als wäre es ein Unfall gewesen? Du hast selbst die Polizisten davon abgehalten, mir die Wahrheit zu sagen, Mama! Du hast mich absichtlich belogen! Warum?!" Ich wurde ungeduldig. Ich brauchte Antworten, doch sie redete um den heißen Brei herum. „Ich hatte einfach so unglaubliche Angst um dich. Ich dachte, du würdest das nie verkraften. Dachte vielleicht, du würdest es deiner Schwester aus der Verzweiflung heraus gleichtun und... und... dich auch... Ich hätte keinen zweiten Verlust verkraftet, wollte dich schützen und... ich weiß ja auch nicht, Lexi, meine Entscheidung damals war dumm, denn du hättest definitiv die Wahrheit verdient gehabt... Vielleicht hättest du mit ihr besser umgehen können, als mit der Unfallversion..." Ich wurde lauter: „Und trotzdem hast du deine Entscheidung all die Jahre über nie in Frage gestellt?! Wie lange hättest du mich denn noch belogen?!" Meine Mutter zuckte zusammen, doch sie antwortete: „Ich habe nicht nur einmal überlegt, wie ich dir alles beichten könnte, das kannst du mir glauben, Lexi... Aber ich kam nie zu einer Lösung... Ich hatte einfach solche Angst, du würdest... würdest mich hassen", sie lachte verzweifelt, dann fuhr sie fort, „was ja offensichtlich trotzdem der Fall ist..." Ich wusste nicht, wie mir geschah. Einerseits war ich immer noch so wütend, andererseits verstand ich meine Mutter auch irgendwo. Wie sollte man seinem Kind schon beibringen, dass die eigene Schwester sich das Leben genommen hatte?! „Ich hasse dich nicht", gab ich kleinlaut und mit gesenktem Blick von mir, „ich bin nur enttäuscht..." Dann sah ich meine Mutter wieder an, in deren Augen sich mittlerweile Tränen gebildet hatten. „Das kann ich verstehen... Ich bin doch von mir selbst enttäuscht. Eine erwachsene Frau, die es nicht schafft, ihrer Tochter so eine wichtige Information beizubringen? Wie lächerlich ist das denn..." Ich fand das aber um ehrlich zu sein gar nicht lächerlich. Wer sagte denn, dass Erwachsene keine Fehler machten und keine Angst hätten? Ich wurde still, hing meinen eigenen Gedanken nach. Sie brachten mich immer mehr dazu, das Ganze aus der Perspektive meiner Mutter zu sehen und auch langsam dazu, es zu verstehen oder zumindest nachvollziehen zu können. Dann fuhr Mama fort: „Ich kann dir nur sagen, dass es mir so unendlich leidtut. Wirklich... Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich so vieles anders machen... Ich würde all das verhindern, was uns als Familie so zerrissen hat... Doch ich kann es nicht. Niemand kann das..." Auch meine Augen mussten mittlerweile verdächtig glänzen. Ich musste mich stark zusammenreißen, nicht in Tränen auszubrechen und meiner Mama um den Hals zu fallen. Doch noch hatte ich Fragen, die ohne Antwort waren und ich würde nicht schwach werden. „Warum hast du mich vom Turnen abgehalten, wo Julie doch geschrieben hat, dass ich niemals aufhören soll? Warum hast du mir da eingeredet, es sei besser, das zu lassen, weil es mich an meine Schwester erinnern würde? Das verstehe ich einfach nicht! Du weißt, wie sehr ich an dieser Sportart hänge!" Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme vorwurfsvoll und scharf klang. Eine Weile schwiegen wir beide wieder, doch meine Mutter hatte scheinbar all ihren Mut zusammengenommen, um mir etwas zu beichten, das ich so noch nie gesehen hatte: „Ich hatte... Angst... Angst um dich. Angst, dich auch noch zu verlieren. Du weißt, wie ich zu diesem Sport stehe. Wie sehr ich bei jeder eurer Verletzungen gelitten habe, waren sie auch noch so klein. Ich hatte einfach solche Angst, du würdest dich irgendwann ernsthaft verletzen und... und ich könnte dir nicht mehr helfen... Im Leistungssport ist dieses Risiko einfach noch viel größer und ich... ich könnte damit nicht leben, Lexi, denn ich liebe dich..." Spätestens jetzt stürzte meine Mauer ein, die ich mir nach und nach errichtet hatte, um meine Mutter von meinen Gefühlen fernzuhalten. Ich merkte erst jetzt, wie sehr ich sie die ganze Zeit über wirklich vermisst hatte. Die Tränen flossen unaufhörlich, woraufhin sie aufstand und mich zögerlich in den Arm nahm, so als hätte sie Angst, diese Berührung würde zu weit gehen. Als ich jedoch keine Anstalten machte, mich zu wehren, wurde sie mutiger und verstärkte den Griff, was mich nur noch mehr schluchzen ließ. Es tat gut, die schützenden Arme seiner Mutter um sich zu spüren. Es war, als würde mich diese Umarmung wieder zusammensetzen. Mich heilen. Und innerlich hatte ich ihr schon längst verziehen...

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