#56 Sorgen und Verzweiflung

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POV Tina Sommer

Es waren nun zwei Monate vergangen, in denen ich mir immer mehr Sorgen um Lexi gemacht hatte. Sie aß nicht mehr wirklich viel, trank immer öfter und verschanzte sich in ihrem Zimmer. Sie wohnte wieder zuhause und verstand sich auch mit ihrer Mutter und deren neuem Freund recht gut, doch wurde sie immer mehr zur Einzelgängerin. Sie redete nicht mal mehr mit mir über ihre Gefühle, sondern zog sich nur weiter zurück und das machte mir echt Angst. So war sie normal nicht, mir gegenüber war sie normalerweise nicht abweisend, doch sie gab ihr Bestes, auch mir vorzuspielen, dass es ihr gutginge. Erfolglos natürlich. In der Schule verhielt sie sich wie immer, ganz so als wäre nichts geschehen. Sie war sogar noch aufsässiger als zuvor, was auch die gesamte Lehrerschaft in den Wahnsinn trieb. Villanis Stunden schwänzte sie die meiste Zeit, weshalb sie von einer gesicherten Zwei auf ein wackeliges Genügend abgerutscht war und vermutlich eine Prüfung brauchte, um nicht einen Fünfer im Halbjahreszeugnis stehen zu haben. Es war nämlich mittlerweile Anfang Februar und der Notenschluss rückte immer näher. Wenn sie sich nicht zusammenriss, würde ihr Abschluss unter alldem leiden und ich wusste, dass meine beste Freundin eigentlich eine verdammt ehrgeizige Person war, die sich mit schlechten Noten nicht zufriedengab. Schon gar nicht in Italienisch oder Englisch, wo sie Sprachen doch echt gern hatte... All das schien aber an Wichtigkeit verloren zu haben. Sie ging nun auch unter der Woche fort und hatte in einem Lokal nun „neue Freunde" gefunden. Es handelte sich um eine Gruppe von Kiffern, die sie wohl mit offenen Armen und ohne nachzufragen, was ihr Grund war, um aus der Realität flüchten zu wollen, aufgenommen hatten. Lexi hatte mir versichert, dass sie diese Ablenkung einfach brauchen und nicht zu viel von dem Zeug rauchen würde. Ich hatte keine Chance mehr bei ihr, sie irgendwie umzustimmen und meine beste Freundin entglitt mir immer mehr, während ich nur zusehen und hoffen konnte, dass sie sich selbst wieder aus diesem unglaublichen Loch holen würde, wenn sie schon keine Hilfe annahm. Ich hatte sogar mit ihrer Mutter gesprochen, die aber nur gemeint hatte, ich sollte ihr Zeit lassen und auch sie würde ihr diese Freiheit geben wollen, denn sie kenne ihre Tochter und sie hätte Angst, sie wieder zu verlieren, wenn sie da nun zu streng wäre. Ich hingegen war überzeugt davon, dass sie gerade jetzt dabei war, Lexi zu verlieren, indem sie nichts gegen ihr selbstzerstörerisches Verhalten unternahm. Aber wer war ich schon? Ich war nur mehr eine ihrer Freunde und wenn auch ich nun überfürsorglich wurde, hätte sie definitiv die Schnauze voll von mir.

„Worüber denkst du nach?", fragte Tobi plötzlich und er strich mir sanft über meinen Oberschenkel. Ich seufzte, bevor ich ihm im Flüsterton antwortete: „Über Lexi... Sie ist heute schon wieder nicht in der Schule und wir haben gleich Italienisch... Sie wird die Matura nicht schaffen beziehungsweise gar nicht erst antreten dürfen, wenn sie so weitermacht..." Auch Tobi setzte einen mitleidsvollen Blick auf, schüttelte den Kopf und meinte: „Dieses Mädchen ist dabei, sich ihre Zukunft zu zerstören... Und wir können nichts machen, das ist echt scheiße..." Selbst er hatte mit Lexi nämlich schon geredet, da er mir vorgeschlagen hatte, das mal zu versuchen, um sie von ihrem Trip runterzuholen, doch ihn hatte sie ebenfalls abgewiesen und gemeint, es ginge ihr gut. Wo sollte das bloß noch hinführen?

„Frau Sommer, Sie möchte ich nach der Stunde sprechen", donnerte die Stimme keiner geringeren als Lucrezia Villani durch die Klasse. Ich nickte verwirrt, dann fuhr sie schon mit dem Stoff fort. Was konnte die denn nun von mir wollen? Seit ihre Beziehung mit Lexi in die Brüche gegangen war, hatte sie mich keines Blickes mehr gewürdigt und nicht mal im regulären Unterricht noch wirklich mit mir gesprochen. Ich hatte wieder diesen unglaublichen Hass auf sie entwickelt, der zu Beginn des Schuljahres schon präsent gewesen war. Diesmal hatte ich aber einen guten Grund, sie zu hassen, denn sie hatte Lexi nicht nur verletzt, sondern sie so weit gebracht, dass diese wieder in ihre alten Muster verfallen war und nun zusätzlich sogar noch Gras rauchte. Sie hatte meine beste Freundin vernichtet und ich hatte mir geschworen, sie irgendwann dafür zur Verantwortung zu ziehen. Und wenn das heute passieren sollte, dann sollte es wohl so sein.

Die Stunde hatte sich noch endlos in die Länge gezogen. In meinem Kopf war die gesamte Zeit über die eine Frage herumgeschwirrt, was Villani von mir nur wollen könnte und wie ich am besten auf Lexi überleiten sollte, um ihr das Ergebnis ihres ignoranten Verhaltens aufzuzeigen. Endlich klingelte es und ich packte meine Sachen extra langsam ein, sodass noch alle Mitschüler die Klasse verlassen konnten, bevor ich dann vor dem Lehrertisch auftauchte. „Was ist mit Alexandra? Wenn sie so weitermacht, wird das nichts mit der Matura." Wow. Ihre Worte klangen so distanziert. So kalt. Aber immerhin hatte sich das mit der Überleitung erledigt. „Alexandra? Echt jetzt? Mann, Sie sind ja noch scheußlicher, als ich erwartet hatte...", gab ich patzig zurück, doch bevor sie mir eine Standpauke halten konnte, von wegen man spreche nicht so mit einer Lehrperson, hatte ich schon wieder zum Reden angesetzt. „Merken Sie eigentlich nicht, was Sie angerichtet haben?! Lexi war noch nie so weit unten, nicht mal nach dem Tod ihrer Schwester! Sie trinkt, verletzt sich, kifft jetzt sogar! Und alles nur, weil Sie sie ganz plötzlich aus ihrem Leben herausschneiden und sie keines Blickes mehr würdigen. Das noch dazu, ohne ihr je einen Grund für diesen Sinneswandel zu nennen! Ihnen ist es scheißegal! Sie leben Ihr Leben ja einfach unbeirrt weiter! Und jetzt fragen Sie mich, was mit Lexi los ist?!" Lucrezia war einen Moment sprachlos, dann - wider Erwarten - schrie sie mich nicht an oder reagierte verärgert, sondern ließ sich resigniert auf den Lehrersessel fallen und strich sich seufzend die Haare zurück.

Eine Zeit lang war es komplett still im Raum und ich hörte nur den Regen, der gegen das Fenster prasselte und den letzten Rest des verbliebenen Schnees auch noch wegschwemmte. Das Wetter war beschissen und doch wäre ich gerade hundertmal lieber draußen als hier drinnen in diesem kühlen, stickigen Raum. Ohne Vorwarnung begann Lucrezia dann aber wieder zu sprechen, diesmal mit schwacher Stimme, die überhaupt nicht mehr schneidend und gefasst klang: „Ich konnte das einfach nicht mehr... Ich... Ich hatte keine Kraft mehr, mich zu verstecken und mir einzureden, dass schon alles gutgehen würde und ich wusste, dass Lexi es niemals akzeptieren würde, wenn ich ihr erkläre, dass ich sie liebe, doch dass wir das so nicht schaffen werden und darum... darum ließ ich sie im Glauben, ich hätte sie nie geliebt, denn nur so konnte ich sie dazu bringen, zu gehen und es uns beiden nicht unnötig schwerer zu machen... Ich bin ihre Lehrerin, Tina! Ich hätte das alles niemals so weit kommen lassen dürfen!" „Haben Sie aber und es ist echt feig, ihr nicht mal den Grund zu nennen", gab ich unhöflich und genervt zurück. Sie atmete verzweifelt aus und meinte: „Ich liebe sie kein bisschen weniger, obwohl ich gehofft hatte, nach all dieser Zeit hätte ich das überstanden..." „Dann reden Sie doch mit ihr, verdammt!" Lucrezia blickte mich verwundert an, vermutlich, weil ich sie wirklich wieder siezte, ging aber nicht weiter darauf ein: „Es ist besser so, wie es jetzt ist." „Für Sie! Für Lexi nicht, Sie egoistisches Arschloch!" Ich war aufgebracht, zornig, wie konnte ein Mensch nur so herzlos sein?! Ich wollte mir das nicht länger geben und so stürmte ich dann auch ohne ein weiteres Wort aus ihrer Klasse. Sie hatte wohl noch immer nicht das gesamte Ausmaß von dem, was sie anrichtete, verstanden...


- A/N -

Vielen Dank für die vielen Votes und Kommentare immer! Das bedeutet mir sehr viel! Was meint ihr, wird es ein Happy End für Lexi und Lucrezia geben? Momentan sieht es ja eher nicht danach aus... Schreibt mir gern eure Vermutungen in die Kommis! :)

Eure the_fire_of_desire <3

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt