#4 Zeit für mich

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POV Lexi Falkner

„Mama, ich gehe nochmal raus!", rief ich meiner Mutter zu. Es war bereits düster draußen, doch das störte mich nicht. Ich war froh, dass ich so nur noch wenige Menschen treffen würde. Ich brauchte nämlich wirklich Zeit zum Nachdenken und um meine Gedanken zu sortieren. Diese Lehrerin hatte mich verwirrt und ich wusste nicht, ob ich das gut fand. Ich hasste Kontrollverlust und doch hatte sich das heute im Klassenzimmer irgendwo auch gut angefühlt. Ich spielte irgendwie ihr Spiel mit, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass sie spielte, wenn das Sinn ergab... Eigentlich hatte ich vielmehr das Gefühl, dass sie etwas verbarg und dass hinter diese Fassade niemand schauen durfte. Das war aber genau das, was ich wollte: Hinter ihre Fassade blicken und ihr wahres Ich kennenlernen. Zumindest wollte ich das jetzt noch, vielleicht wäre ich aber auch zutiefst verstört und schockiert, wenn ich wirklich dahinterkäme, doch um das herauszufinden, musste es erst einmal so weit kommen.

Ich spazierte in den Wald hinein in Richtung der verlassenen Hütte, in der ich es mir schon so oft gemütlich gemacht hatte, wenn ich meine Ruhe haben wollte. Mittlerweile hatte ich dort Decken, Wasserflaschen und Dosenmahlzeiten verstaut, das bedeutete, zur Not könnte ich dort sogar einige Nächte bleiben. Es gab zwar keine wirkliche Heizung, jedoch einen uralten Herd, der Wärme spendete, während man auf ihm kochte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wem diese Hütte gehörte, doch ich wusste, dass hier niemand mehr herkam, denn sie stand seit Jahren leer. Und da ich darüber in Kenntnis war, wo sich der Schlüssel befand, kam ich auch immer hinein. Sie war im Prinzip mein Rückzugsort, von dem niemand etwas wusste, nicht mal Tina oder Tobi.

Bald schon hatte ich das alte Gebäude erreicht, grub den Schlüssel aus dem Blumentopf mit der verwelkten Pflanze aus, die ich bis heute nicht benennen konnte und schloss vorsichtig auf. Die Tür knarzte und dann wehte mir auch schon dieser vertraute Duft von Zirbenholz entgegen. Ich kramte im Schrank nach der Decke und machte es mir auf diesem alten Sofa gemütlich. Hier war ich vollkommen alleine und konnte meine Gedanken zulassen. Das gelang mir zu Hause nicht wirklich, da eben niemand von meiner Homosexualität wusste und ich dann irgendwie das Gefühl hatte, ich würde meine Mutter belügen. Doch log ich wirklich? Eigentlich behielt ich ja nur etwas für mich, würde sie mich danach fragen, würde ich ihr vielleicht sogar die Wahrheit anvertrauen. Wobei ich das auch nicht mit Sicherheit behaupten konnte, denn diese Situation würde nicht eintreffen. Meine Mutter dachte leider nicht mal daran, dass es auch andere Sexualitäten gab und fragte immer noch, wann ich denn einen Schwiegersohn nach Hause bringen würde. Wenn ich es jemandem erzählen würde, dann meiner Schwester, doch allein der Gedanke daran stimmte mich traurig. Ich würde so gerne mit ihr über so etwas sprechen können...

Nach etwa zwei Stunden entschied ich mich dazu, mich wieder auf den Heimweg zu machen, denn wenn es dunkel wurde, machte sich umgehend Unbehagen in mir breit. Wer war schon gerne allein im Wald? Noch dazu ohne Empfang? Ich hatte gerade wieder die Weggabelung erreicht, da leuchtete mein Handy mehrmals hintereinander auf. Meine Mama hatte mich dreimal zu erreichen versucht und Tina hatte mir eine Nachricht geschrieben. Da ich aber sowieso gleich zu Hause wäre, machte ich mir nicht die Mühe, sie zurückzurufen und die Nachricht würde ich auch später lesen.

„Hallo Mama, ich bin wieder da!", rief ich. Dann stürmte meine Mutter auch schon aus der Küche. „Schatz, gut dass du hier bist, ich muss mit dir reden." Im ersten Moment war mir unwohl. Was, wenn sie wirklich über meine Sexualität sprechen wollte? War ich dazu bereit? Dann fuhr meine Mutter aber auch schon fort: „Ich muss für zwei Wochen für unser Forschungsprojekt nach Island fliegen... Schon nächsten Montag..." Ich wunderte mich, wer so kurzfristig eine so aufwendige Reise plante, doch irgendwie freute ich mich für sie, denn sie sprach seit Jahren davon, dass sie die Tierwelt dort endlich genauer unter die Lupe nehmen wollte. „Wow, das ist ja toll! Da wolltest du doch immer schon hin, oder?", fragte ich sie nun. „Ja, das stimmt, aber ich fühle mich irgendwie nicht wohl dabei, dich hier zurückzulassen. Du weißt schon, seit Julie weg ist..." Sie brauchte nicht weiterzureden, ich verstand genau, was sie damit sagen wollte und es machte mich traurig. „Mama, ich komme schon alleine klar. Mach dir um mich keine Sorgen, mittlerweile kann ich damit leben, auch wenn ich sie immer noch sehr vermisse..." Meine Mutter schenkte mir einen mitleidigen Blick, meinte dann aber: „Gut, wenn du das sagst... Ich vermisse sie auch, doch das Leben geht weiter, Schatz." Mit diesen Worten drückte sie mir einen Kuss auf die Stirn und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Das Leben ging weiter. Und wie es das tat. Ganz darüber hinweg würde ich aber wohl nie kommen...


- A/N -

Neues Kapitel ist da! Wenn ich Zeit habe, veröffentliche ich vielleicht sogar noch ein zweites heute Abend, da dieses ja doch eher kurz war. Ich freue mich aber natürlich auch hier wieder über jegliches Feedback/ jegliche Kritik, nur so kann man sich immerhin weiterentwickeln. :)

Kurze Anmerkung noch: Der Name Julie wird französisch ausgesprochen (Schülie) :D

Habt einen schönen Montag! <3

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt