#19 Gefährliche Anziehung

2.4K 146 11
                                    

POV Lexi Falkner

„Das war schon nicht schlecht! Versuch das am besten gleich nochmal!" Wollte sie mich umbringen? Ich war jetzt schon so außer Atem, nachdem ich seit sicher einer halben Stunde das Rondat perfektionierte. Es war ein Sprungelement, was bedeutete, dass ich Anlauf brauchte. „Bitte...", keuchte ich, „ich brauche eine Pause!" Meine Lehrerin lachte nur, gewährte mir diese dann letztendlich aber mit den Worten: „Gut, doch sobald du wieder kannst, werden wir die Vorübung für den Flick angehen." Vor zwei Tagen hatte sie mich dabei erwischt, wie ich heimlich im Turnsaal unserer Schule die Geräte aufgebaut und diese zum ersten Mal seit drei Jahren wieder beturnt hatte. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt die letzten Tage, die ich allein in meiner Hütte wohnte. Mit meiner Mutter hatte ich mich noch immer nicht wieder vertragen, doch sie wusste immerhin, dass es mir gutging, sie hatte Tina nämlich mit Anrufen bombardiert. Aber auch der hatte ich noch nichts von meinem Aufenthaltsort erzählt, hatte dies jedoch definitiv noch vor.

Frau Professor Villani stand nun lässig an die Sprossenwand gelehnt, die ich in einem meiner Wutausbrüche letztens fast kleingeschlagen hätte und sah mich abwartend an. Nach einer Weile stellte ich meine Trinkflasche zur Seite und meinte dann: „Okay, von mir aus kann es weitergehen." Ich konnte es selbst kaum glauben. Ich turnte nicht nur wieder, ich ließ mich auch noch von meiner absoluten Hasslehrerin trainieren! Hätte mir das vor ein paar Wochen jemand erzählt, hätte ich ihn schallend ausgelacht. Doch man wusste eben nie, was das Leben so brachte.

„Das war schon echt gut! Versuch den Schwung aus dem Rondat mitzunehmen", riet mir Villani gerade und ich konnte mir eine Bemerkung nicht verkneifen, während ich wieder ans Ende der Matte ging, um erneut Anlauf zu nehmen: „Seit wann wissen Sie, wie man lobt?" Ich schmunzelte, doch anstatt irgendwie abweisend darauf zu reagieren, rollte sie nur gespielt beleidigt mit den Augen. Ja, ich gab es zu, unsere Beziehung war komisch. Im einen Moment zerfleischten wir uns beinahe, im nächsten konnte man meinen, wir wären beste Freundinnen. „Ich denke, das kannst du jetzt. Lass uns zum Flick übergehen. Bedenke, dass du den Schwung aus dem Rondat mitnimmst!" Plötzlich begannen meine Hände unkontrolliert zu zittern. Ich hatte doch nicht etwa... Angst? „Nein, Lexi. Du wirst jetzt nicht kneifen. Jetzt stell dich nicht so blöd an! Du konntest das doch schon mal!", redete ich mir selbst ein, doch egal wie sehr ich es wollte, direkt nach dem Rondat brach ich ab. Immer und immer wieder. Es ging nicht. Ich traute mich einfach nicht drüber. „So wird das nichts. Du kannst dich nicht dazu zwingen. Wir müssen das anders angehen", prophezeite mir meine Lehrerin gerade und schneller, als ich zusehen konnte, stand sie neben mir und hatte ihre eine Hand an meinen Rücken und die andere an meinen Oberschenkel gelegt. Mich durchzuckten wieder diese Stromschläge, die ich auch damals gespürt hatte, als sie mir meine Hand verbunden hatte. Ihre Berührung machte mich nervös, lenkte mich ab. So würde ich mich nur verletzen. „Jetzt mach schon. Ich sichere dich. Du musst nur aus dem Stand nach hinten springen, ich drehe dich drüber!", erklärte sie mir, weil ich immer noch keine Anstalten machte, mich vom Fleck zu bewegen. Irgendwie genoss ich die Berührung und ich hatte große Mühe, mir das nicht anmerken zu lassen. Ob sie dieses Kribbeln auch fühlte? „Lexi Falkner. Ich habe immer noch nicht den ganzen Tag Zeit", ermahnte sie mich in alter Strenge, doch ich wusste, dass sie mich nur dazu bringen wollte, endlich nach hinten zu springen. „Ähm... Ja, gut. Ich versuch's." Ich atmete einmal tief durch, fixierte einen Punkt vor mir an der Hallenwand und sprang dann einfach weg. Ich hatte mich selbst überlistet, denn ich hatte eigentlich erwartet, dass es noch ein wenig dauern würde, bis ich mich traute, doch da hatte mein Körper schon das Handeln übernommen. Ich fühlte mich nur noch wie ein Passagier, wie eine Marionette, die von einer externen Kraft gesteuert wurde. Von ihr gesteuert wurde. Dann hatte ich auch schon wieder festen Boden unter den Füßen. Ich hatte es wirklich geschafft! Ich war den Flick-Flack wieder gesprungen! „Oh Gott, ich glaub's nicht!", jubelte ich und bevor ich mich stoppen hätte können, fiel ich meiner Lehrerin um den Hals und murmelte: „Danke! Danke, danke, danke!" Als ich realisierte, wen ich da gerade umarmte, wollte ich zurückschrecken, mich von ihr entfernen, doch anstatt sich meiner Arme zu entziehen, drückte sie mich nur noch näher an sich. Das Kribbeln, das ich schon die ganze Zeit über gespürt hatte, wurde stärker und ich atmete tief den vertrauten Duft ihres Parfüms ein. Wie konnte ein Mensch nur so gut riechen?

Nach einer gefühlten Ewigkeit drückte sie mich sanft von sich und blickte mir tief in die Augen. In ihren konnte ich beinahe einen Ozean erkennen, der so tief war, dass ich nicht wusste, ob mich die reißenden Wellen ins Wasser ziehen und ertränken würden, oder ob er mir all meine Sorgen wegschwemmen könnte. Ich wusste nur, dass ich mich bereits so tief darin verloren hatte, dass ich mich den Händen meiner Lehrerin, die immer noch auf meinem Rücken ruhten, nicht mehr entziehen konnte. Selbst wenn ich es gewollt hätte. Ihr Gesicht war nur noch etwa zehn Zentimeter von meinem entfernt und ich meinte, zu träumen, als es sich noch weiter näherte. Ich hatte das unglaubliche Bedürfnis, auch diese letzte Lücke zwischen uns zu schließen, doch gerade, als ich dachte, mutig genug zu sein, drehte sie ihren Kopf zur Seite und nahm gleichzeitig ihre Hände von meinem Körper. Sofort verschwand dieses Gefühl von Wärme und wich einer beißenden Kälte, die ich so noch nie gefühlt hatte. Ihre Berührungen konnte ich noch immer auf dem Stellen fühlen, auf denen ihre Hände verweilt hatten. Ich sehnte mich regelrecht nach ihnen, und doch befürchtete ich, dass ich diese nicht so schnell wieder spüren würde...

„Das reicht für heute, hilf mir bitte beim Abbauen." Ihre Worte klangen wieder so kühl, sodass es mir einen Schauer über den Rücken jagte. Wir waren gerade so weit gewesen. Hatten uns gerade verstanden und wie normale Menschen miteinander sprechen können. Sogar gelacht hatten wir! Doch der ganze Fortschritt war nun mit einem Mal zunichte gemacht. Wie hatte ich nur denken können, ich sollte sie küssen?! Was war denn nur los mit mir? Sie war meine Lehrerin! Meine verhasste Lehrerin! Aber die Annäherung war nicht von mir ausgegangen. Sie hatte mir ihren Kopf entgegenbewegt. Sie hätte mich fast geküsst! Aber ich hatte sie umarmt, sonst wäre es vermutlich nie so weit gekommen! Ich war verwirrt. War sie denn überhaupt lesbisch? War denn die ganze Welt plötzlich lesbisch?!

„Schaffst du den Rest? Ich muss los", meinte sie nur monoton und die Kälte in ihrer Stimme tat mir weh. Sie versetzte mir einen schmerzhaften Stich. „Ich... Ja, klar...", murmelte ich, sah sie aber gar nicht mehr an. Ich hörte nur noch, wie sie die Halle verließ und ihre Schritte immer leiser wurden. Dann ließ ich mich auf den Boden fallen und vergrub meine Hände in meinen Haaren. Ich wusste nicht, ob das Training mit ihr heute ein Erfolg gewesen war, oder ob es besser gewesen wäre, das einfach bleiben zu lassen. Ich hatte wieder geturnt. Hatte zum ersten Mal seit Julies Tod wieder dieses unvergleichliche Glücksgefühl verspürt, nachdem ich ein Element geschafft hatte. Ich war außer mir gewesen vor Freude. Und doch bereitete mir der Gedanke an die letzten Stunden Übelkeit. „Ich sollte wirklich gehen", dachte ich noch, dann verräumte ich den Mattenwagen, schnappte mir mein Zeug und verließ das Gebäude durch die Hintertür, durch die ich auch gekommen war...

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt