POV Lexi Falkner
„Warum bist du heute so still?" Ich drehte mich abrupt zu meiner besten Freundin um, die mich mit einer Mischung aus Schreck und Verwunderung musterte. „Ich bin nervös", gab ich nur knapp zurück. Ich hatte keine Lust, mich zu erklären, obwohl ich wusste, dass Tina mich vielleicht beruhigen könnte. Doch was half es mir, wenn ich ruhig war, dafür aber trotzdem das Worst-Case-Szenario eintraf? Da konnte ich genauso gut aufgeregt herumlaufen und mir die Mühe sparen. Wir waren gerade auf dem Weg zu Mathe und ich wünschte mich in die Zeit zurück, in der die Tatsache, dieses Fach am Montag in der ersten Stunde ertragen zu müssen, eines meiner größten Probleme gewesen war. Lucrezia hatte die Fahrt zur Schule über geschwiegen. Erst als ich, heute bereits einige Straßen früher, ausgestiegen war, hatte sie ihre Hand sanft auf meine gelegt und gemeint, dass sie mich liebte und dass das immer so sein würde, egal was geschehe. Mir waren vorhin schon die Tränen gekommen, doch als ich die Worte „Ich bin immer bei dir, egal wie weit ich weg bin" in meinem Kopf nochmal hörte, musste ich mich noch mehr zusammenreißen, nicht hier auf dem Gang in Tränen auszubrechen. Ich berührte sanft einen meiner Ohrstecker, die ich, seit sie sie mir geschenkt hatte, rund um die Uhr trug und richtete meinen Blick dann wieder zu Boden, um unbeobachtet das Wasser in meinen Augen wegzublinzeln. Das entging Tinas Scharfsinnigkeit natürlich nicht und so kam es auch, dass sie mich zum Reden drängte: „Nun komm schon, Lexi, ich sehe doch, dass es dir nicht gutgeht. Hat sie dich verletzt? Ich schwöre, wenn die etwas Dummes getan hat! Jetzt rede doch mit mir!" Ich blieb stehen, hob meinen Kopf nur kurz, um zu überprüfen, ob wir allein waren und erklärte dann knapp: „Die Direktorin hat uns gesehen, als ich in Lucrezias Auto gestiegen bin nach dem Training... Und jetzt hat sie ein Gespräch bei ihr. Wir wissen nicht, worum es da gehen wird, aber ich habe so unglaubliche Angst, Tina... Ich kann sie nicht verlieren! Sie ist mein Halt, den ich so lange Zeit für immer verloren geglaubt habe!" Tinas geschockter Ausdruck beruhigte mich nicht wirklich. Ich erklärte ihr noch kurz die genaueren Umstände, bevor sie antwortete: „Fuck... Aber bist du sicher, dass es darum geht? Habt ihr euch denn geküsst oder so?" Ich schüttelte bloß den Kopf. „Dann hat sie ja eigentlich nichts gegen euch in der Hand, oder? Ich meine, es steht nirgends, dass eine Lehrerin eine Schülerin nicht nach Hause fahren darf, noch dazu außerhalb der Schulzeit. Und wenn du sagst, dass es auch noch in Strömen geregnet hat, dann ist das doch ein triftiger Grund, dich mitzunehmen! Wenigstens bis zur Bushaltestelle zum Beispiel..." Ich dachte über Tinas rationalisierte Worte nach. Sie hatte recht, wenn die Direktorin wirklich nicht mehr gesehen hatte, konnte sie uns eigentlich nichts anhaben... Problematisch würde es erst dann werden, wenn sie uns in der Halle bereits beobachtet hätte, da hatten wir uns nämlich diesmal mehrmals geküsst, auch wenn eigentlich abgemacht war, bei den Trainings professionell miteinander umzugehen. Ich seufzte. Was halfen mir all die Spekulationen? Ich konnte nur abwarten. Und mit diesen Gedankengängen im Hinterkopf betrat ich resigniert die Klasse, setzte mich in die letzte Reihe und schlug mein Mathebuch auf, wohlwissend, dass ich sowieso nichts von der Stunde mitbekommen würde.
„Frau Alexandra Falkner, bitte in die Direktion kommen. Ich wiederhole: Alexandra Falkner, bitte in die Direktion." Mein Puls schoss umgehend in die Höhe. Was war jetzt los? Ich war noch nie per Lautsprecher aufgerufen worden und schon gar nicht von der Direktorin persönlich! Ein schockierter Blick meiner besten Freundin signalisierte mir, dass auch sie gerade mindestens einen Puls von 180 hatte. Ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen und mein Herz förmlich pumpen hören, so leise war es in der Klasse geworden. Erst als Frau Fradler zu sprechen begann, verstummten alle inneren Geräusche. „Sie können den Rest des Stoffes von Ihrer Sitznachbarin abschreiben. Gehen Sie nur." „Wenn ich nicht von der Schule fliege", dachte ich, packte dann aber meine Utensilien in meine Schultasche, schulterte sie und verließ auf wackeligen Beinen den Raum. Das letzte Mal hatte ich mich bei meiner Infektion im Arm so schwach gefühlt, doch da war es zum Glück etwas gewesen, wovon ich gewusst hatte, es würde irgendwann heilen. Diesmal begab ich mich auf direktem Wege in die Ungewissheit und das zugegebenermaßen nicht sehr zuversichtlich. „Es ist aus", dachte ich bei jedem Schritt, den ich tat. Ich würde Lucrezia verlieren. Meine Zukunft verlieren, denn die Matura könnte ich mir so mit Sicherheit auch in die Haare schmieren. „Einen Fuß vor den anderen, Lexi", murmelte ich mantraartig, um nicht sofort am Gang umzukippen. Der Weg in den dritten Stock war mir noch nie so lang vorgekommen. Ich hätte mich gerne mit dem für mich typischen „Du hast nichts mehr zu verlieren" beruhigt, doch das war schon lange nicht mehr so. Ich hatte nach so langer Zeit endlich wieder einen Sinn in meinem Leben gefunden. Freude gefunden. Julies Tod hatte mich in ein Loch gerissen, doch auch wenn ich noch nicht wieder ganz draußen war, mit Lucys Hilfe war ich immerhin auf dem besten Weg dorthin. Nur all das könnte jetzt Geschichte sein. Ich könnte wieder in diese unendlichen Tiefen hinabstürzen und vor dem Aufprall, der gewiss kommen würde, noch Unmengen an Schlamm und Geröll mithinunterreißen, sodass ich mich selbst darin begrübe. Ich wusste nicht, ob ich einen erneuten Rückschlag verkraften würde. Ob ich weiterkämpfen würde. Um ehrlich zu sein, bezweifelte ich das ganz stark. Und all das nur, weil ich mich in die falsche Person verliebt hatte? Naja, es wäre nicht mein Leben, wenn es anders wäre...
Ich hatte nun das Büro mit der Aufschrift „Direktion – Mag. Andrea Weinberg" erreicht, doch ich war nicht fähig, zu klopfen. Meine Hände zitterten und mein Herz drohte aus meinem Brustkorb zu springen, so sehr fürchtete ich mich. Irgendwann verselbstständigte sich meine Hand jedoch und ich nahm nur irgendwo wahr, wie sie das Holz berührte und dumpfe Geräusche erzeugte. Es war, als wäre alles ganz weit weg. Ein „Herein" ertönte und ich drückte beinahe wie von selbst die Klinke runter und die Tür auf. „Sammel dich, sonst hast du gleich verloren!", ermahnte mich das letzte bisschen meines Verstands, das noch übrig war und so atmete ich nochmal tief durch, bevor ich einen vorsichtigen Schritt ins Innere des Zimmers wagte.
„Hallo Frau Falkner, nehmen Sie doch bitte kurz Platz." Ich sah Lucrezia, die der Direktorin gegenübersaß, traute mich aber nicht, sie länger anzusehen, auch wenn sie heute wieder verboten gut aussah. Diese Gedanken brachten mich gerade nicht weiter. „Grüß Gott... Ich...", stotterte ich, doch aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Freundin mich mit einem mahnenden Blick zum Schweigen bringen wollte. Was hatte das denn nun zu bedeuten?
Nachdem ich mich auf den Stuhl neben ihr gesetzt hatte, begann Weinberg wieder zu sprechen: „Ich möchte gar nicht viel Ihrer Zeit beanspruchen, darum falle ich gleich mit der Tür ins Haus", ich zog angespannt die Luft ein und hielt meine Augen im Zuge eines Blinzelns ein wenig länger geschlossen, um mich auf das, was käme, vorzubereiten. „Die Klassenfahrt steht bald an und ich wollte Sie bitten, die Kassiertätigkeit zu übernehmen und die beiden Lehrpersonen Herrn Schmied und Frau Villani bei der Planung der einzelnen Aktivitäten zu unterstützen. Aus der Schülerperspektive, wenn Sie verstehen, wie ich das meine. Es ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie sich dazu am besten eignen würden. Außerdem würde sich das bestimmt positiv auf Ihre Beliebtheit bei anderen Lehrpersonen auswirken, Sie sind doch... naja, eine recht temperamentvolle Person, die mit diesem Verhalten bei einigen Kollegen ein wenig aneckt... Weiters könnte ich dann Ihre Strafe für die bei Ihnen gefundenen Drogen frühzeitig beenden. Sie haben dem Reinigungspersonal schon genug geholfen und ich möchte nicht, dass Ihre schulischen Leistungen, die eigentlich ja wirklich gut sind, unter dieser zusätzlichen Arbeit leiden... Sehen Sie die Mithilfe bei der Planung also als eine Art Sozialstunden an und dann ist das alles auch wieder erledigt..." Ich hatte nur den ersten Satz gehört und danach mehr als erleichtert aufgeatmet. Es war etwas ganz Harmloses. Sie hatte Lucrezia nur sprechen wollen, um über unseren Ausflug zu reden. Sie wollte nur planen, nichts über uns bereden. Sie hatte uns vielleicht gar nicht erkannt! Wir waren sicher! Zumindest war all das diesmal nochmal gut ausgegangen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Womit hatte ich das verdient? Ich, die vom Pech verfolgte Lexi Falkner! Mir wurde schwindelig, als all die Anspannung von mir abfiel und ich merkte, dass mein Körper mit meiner Gefühlsachterbahn in letzter Zeit heillos überfordert war. „Geht es Ihnen gut? Sie sind so blass...", stellte meine Direktorin gerade fest. „Mir ist ein wenig schwindelig", gab ich zu, dann merkte ich auch schon, wie meine Umgebung verschwamm. „Frau Falkner? Alexandra Falkner!", hörte ich Weinberg noch irgendwo in der Ferne und schon wurde mir schwarz vor Augen. Wenn der Körper Erholung brauchte, dann nahm er sich diese Auszeit eben einfach. Freiwillig hätte ich sie ihm vermutlich sowieso nicht gegeben...
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In you I found remedy
Teen Fiction[Abgeschlossen] Mir ist danach, dich besser kennenzulernen. Vielleicht ist das dumm, naiv, aber..." Doch sie unterbrach mich: „Was möchtest du denn wissen?" „Das ist eine gute Frage. Nicht nur die Basics zumindest. Also schon auch, aber mehr noch, w...