POV Lexi Falkner
Sehr geehrte Frau Dir. Weinberg,
ich möchte Ihnen auf diesem Weg mitteilen, dass ich mich von der Schule abmelde. Wenn Sie dazu noch irgendwelche Unterschriften oder ausgefüllten Formulare brauchen, melden Sie sich bitte.
Mit freundlichen Grüßen
Alexandra Falkner
Ich hatte das Mail sicher schon hundertmal gelesen, doch ich schaffte es einfach nicht, den Senden-Button zu drücken. Wieso fiel mir dieser Schritt so schwer? Es war das Beste für mich! Ich würde Lucrezia nicht mehr täglich sehen müssen und somit würden meine Gefühle bestimmt irgendwann abflauen. Vielleicht nicht sofort, doch es würde besser werden und ich könnte endlich wieder frei atmen, ohne das Gefühl haben zu müssen, etwas würde mir die Luft abschnüren und mich ersticken. Sofort dachte ich an unsere ersten Zusammentreffen. Sie hatte mir wortwörtlich die Luft zum Atmen genommen, doch damals hatte sich das verboten gut angefühlt. Hätte ich nur gewusst, wie das alles enden würde, ich hätte es gar nicht erst so weit kommen lassen. Aber im Nachhinein war man immer schlauer, nicht?
Endlich hatte ich das E-Mail abgeschickt. Anstatt des Gefühls von Freiheit und Erleichterung, breitete sich jedoch dieses lästige Unwohlsein in meinem Körper aus. Ich hatte all diese Jahre verschwendet. Ich brach wirklich drei Monate vor der Matura die Schule ab. Welcher Idiot machte sowas denn? Mich würde wohl auch niemand verstehen, nur ich wusste, dass es die richtige Entscheidung war. Wie ich das meiner Mutter beibringen sollte, wusste ich zwar noch immer nicht, aber vielleicht würde sie das ja akzeptieren, wenn ich einen Job fände. Und so durchsurfte ich sogleich das Internet um freie Stellen in meiner Nähe.
Friseurin, Einzelhandelskauffrau, Bürofachfrau, technischer Einkauf. Mir wurden so viele Lehrstellen vorgeschlagen, doch nichts davon entsprach meinen Vorstellungen. Ich wollte keine Lehre machen, ich wollte einfach nur arbeiten, doch das war wohl keine Option, wenn ich mir die Gehaltstabellen so ansah. Man verdiente quasi nichts ohne abgeschlossene Ausbildung und ohne Matura wurde man noch schlechter eingestuft. Was dachte ich mir nur bei alldem? Ich würde es ja doch nicht schaffen...
„Lexi, Essen ist fertig!" Das war meine Mutter, sie hatte heute wieder mal gekocht und auch Gerald war da. Ich kam mittlerweile ganz gut aus mit ihm und es freute mich auch, dass meine Mutter glücklich zu sein schien, doch eine Sache ging mir gewaltig auf den Keks: Er versuchte immer, mir ins Gewissen zu reden, wenn ich irgendwie schlechte Laune hatte oder schlechte Entscheidungen traf. Er benahm sich, als wäre er mein Vater, das war er jedoch nicht und das würde er auch nie sein. Ich brauchte keinen Vater, schon gar keinen neuen. Ich wusste natürlich, dass er es nur gut meinte und dass er oftmals das aussprach, was meine Mutter dachte, jedoch nicht sagte, um unsere Beziehung nicht wieder zum Kippen zu bringen. Es war irgendwo ja auch echt nett von ihm, dass er sich da sozusagen opferte, der Buhmann zu sein, trotzdem nervte mich das gewaltig. Ich wollte gar nicht wissen, wie er reagieren würde, sobald er von meiner Entscheidung die Schule zu schmeißen hörte. Ich würde es ihnen noch nicht sagen. Erst, wenn ich einen Plan B hatte, einen Job hatte. Vorher würde ich ihnen vorspielen, täglich brav hinzugehen und zu lernen. Ich würde mich einfach ein wenig verstellen, das hatte ich so viele Jahre über tun müssen, sodass ich das wohl ein paar Wochen länger auch noch schaffen würde. Ich war eine Meisterin der Lügen – keine Eigenschaft, auf die man stolz sein konnte, doch es war nun mal so.
„Wie läuft's bei dir so, Lexi? Hast du viel Stress in der Schule? Die Matura rückt ja immer näher", warf Gerald gerade in den Raum und ich verschluckte mich umgehend an meinen Nudeln. Meine Mutter klopfte mir auf den Rücken und als ich mich wieder gefangen hatte, antwortete ich ein wenig verlegen: „Ähm... Ja, wir haben echt viel zu tun. Deshalb werde ich auch jetzt wieder rauf in mein Zimmer gehen und ein wenig lernen. Danke für das Essen, Mama!" Ich drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange und huschte dann die Treppe rauf, keine Sekunde länger hätte ich da am Tisch sitzen wollen. Es fühlte sich an, als würde ich meine Mutter vollkommen hintergehen. Ich fühlte mich so schuldig.
Den restlichen Abend hatte ich mit der Jobsuche verbracht. Ich hatte mich sogar bei einer Bar als Barkeeperin beworben. Dazu müsste ich nämlich nur eine kurze Ausbildung machen, könnte aber davor schon immer aushelfen. Wenn man bedachte, dass man da Trinkgeld auch bekam, war die Bezahlung echt nicht schlecht und vorübergehend wäre das sicher eine gute Lösung. Nur so lange, bis ich etwas Besseres fand natürlich. Für immer wollte ich das nicht machen, denn es war schon sehr weit von der Linguistik entfernt. Plötzlich klingelte mein Handy, was mich schon mal echt wunderte, denn dass ich das mal nicht auf lautlos hatte, kam selten vor. Ich kannte nicht mal meinen eigenen Klingelton! Noch seltsamer war es jedoch, dass ich die Nummer, die auf dem Display aufleuchtete, nicht kannte. Ich überlegte, ob ich es einfach klingeln lassen sollte, weil es bestimmt nur irgendeine Umfrage wäre, doch irgendetwas in mir sagte mir, dass ich da wohl besser rangehen sollte. So betätigte ich dann auch schon den grünen Hörer und meldete mich mit einem ganz allgemein neutralen „Hallo?"
„Hallo Frau Falkner, hier spricht Frau Direktor Weinberg. Es geht um Ihr Mail, das Sie mir gesendet haben." Ich wurde sofort hellhörig. Wieso rief sie mich bitte an? Sie hätte einfach die Antwortfunktion nutzen und mir so die Formulare zukommen lassen können, die es zu unterschreiben galt. Doch dann sprach sie weiter: „Ich akzeptiere Ihren Abbruch nicht. Nicht ohne dass Sie mir einen guten Grund dafür nennen. Wieso wollen Sie so knapp vor Ihrem Abschluss alles aufgeben?" Ich schnappte hörbar nach Luft. Was sollte ich ihr denn nun bitte sagen? Dass ich mich in eine ihrer Lehrerinnen verliebt hatte und dass diese mich nun abserviert hatte und ich ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte? „Ich... äh... Sie können das nicht einfach nicht akzeptieren! Ich habe es Ihnen schriftlich mitgeteilt, das muss reichen!" Ich wurde irgendwie wütend, auch wenn ich genau wusste, dass diese Wut eher mir selbst und meiner ausweglosen Situation galt. „Wie gesagt, ohne einen guten Grund lasse ich Sie nicht gehen. Sie waren jahrelang eine Musterschülerin! Stets die Klassenbeste und das, obwohl Sie sich nicht mal wirklich bemüht haben! Das Kollegium hat immer wieder festgestellt, dass Sie noch so viel mehr könnten, wenn Sie sich nicht weigern und so vorlaut sein würden und trotzdem waren Sie am Ende des Jahres immer die Beste Ihrer Klasse, nein, Ihres Jahrgangs! Sie haben so viel Potenzial, etwas Tolles zu studieren und dann einen gut bezahlten Job auszuüben und jetzt hören Sie einfach auf?! Ganz plötzlich? Da passt doch irgendetwas nicht! War das wirklich Ihre eigene Entscheidung?" Stumme Tränen rannen meine Wangen hinab, doch ich würde die Direktorin mit Sicherheit nicht mitbekommen lassen, dass ich weinte. War es denn meine eigene Entscheidung? Irgendwie ja nicht ganz. Ich hätte das unter normalen Umständen niemals getan. Doch es war mein Ausweg. Mein einziger. Es war meine Flucht. War das feig? Verdammt, ich war feig. Anstatt mich meinen Dämonen zu stellen, rannte ich vor ihnen davon. Doch ich hatte es lange genug versucht, zu kämpfen. Ohne Erfolg. Also warum sollte ich mich nicht selbst von meiner Last erlösen?
„Sind Sie noch dran?" Die Stimme am anderen Ende der Leitung holte mich wieder zurück ins Hier und Jetzt. Ich atmete tief durch, bevor ich antwortete: „Ich schaffe die Matura sowieso nicht. Dazu war ich viel zu selten in der Schule in letzter Zeit. Viel zu oft... krank", ich kam mir blöd dabei vor, es so rüberzubringen, als wäre ich echt krank gewesen, wo ich doch genau wusste, dass auch Frau Weinberg klar war, dass ich einfach geschwänzt hatte, „und außerdem will ich nicht studieren. Die Erkenntnis kam vielleicht ein bisschen spät, das gebe ich zu, aber... ich will einfach eine Lehre machen und endlich mein eigenes Geld verdienen. Und darum höre ich mit dem Gymnasium auf." Meine Stimme klang zum Schluss hin hart und emotionslos. Ich hoffte, dass die Direktorin das nicht als Unsicherheit deutete, sondern dass es überzeugend gewesen war, denn länger könnte ich dieses Gespräch nicht mehr führen. Ich hatte mich entschieden. Ich würde Lucrezia so aus dem Weg gehen können und alles würde gut werden. Doch der letzte Satz von Frau Weinberg brachte mich nur noch mehr aus dem Konzept: „Ich verstehe nicht, warum diese Schule nun jeder verlässt... Zuerst Lucrezia, jetzt Sie, was kommt denn noch? Was passt denn nicht bei uns? Naja, ich kann Sie wohl wirklich nicht umstimmen. Ich sende Ihnen alle notwendigen Formulare per Mail. Schönen Abend noch." Dann hörte ich nur noch das Piepen am anderen Ende der Leitung. Zurück blieb ich allein in meinem totenstillen Zimmer. Und zwar in maximaler Verwirrung...
- A/N -
Liebe Leute! Ich möchte mich an dieser Stelle einfach wieder mal für euren unglaublichen Support bedanken! Jeder einzelne Vote und jedes Kommentar freuen mich unglaublich! Bleibt dran, denn es wird weiterhin spannend, das verspreche ich euch. Und lasst mir wie immer gern eure Meinung und Vermutungen da! :)
Eure the_fire_of_desire <3
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In you I found remedy
Teen Fiction[Abgeschlossen] Mir ist danach, dich besser kennenzulernen. Vielleicht ist das dumm, naiv, aber..." Doch sie unterbrach mich: „Was möchtest du denn wissen?" „Das ist eine gute Frage. Nicht nur die Basics zumindest. Also schon auch, aber mehr noch, w...