#18 Du kannst es ja wirklich

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POV Lucrezia Villani

Die letzten Wochen waren ruhig gewesen, was vor allem daran lag, dass Lexi sich wie eine Vorzeigeschülerin verhalten und mir damit sehr viele Nerven gespart hatte. Ich hatte mich anfangs gewundert, was sie dazu bringen hätte können, sich zurückzuhalten, doch nachdem ich Clara gefragt hatte, wie sie ihr Verhalten beurteilen würde, war mir so Einiges klar geworden. Meine Schülerin hatte mir wirklich ihr Vertrauen geschenkt und da ich auch nicht mehr auf ihr herumhackte, verfielen wir beide nicht wieder in diese alten Muster des uns Anfauchens und Anschreiens, sondern konnten nebeneinander existieren. Es war eigentlich wirklich harmonisch zwischen uns und ich würde lügen, würde ich behaupten, dass mir das nicht gefiele. Ich war sogar sehr glücklich darüber, denn es schien ihr nicht mehr allzu schlecht zu gehen. Sie schien sich langsam wieder zu fangen, was auch immer passiert sein mochte, was ihre resignierte Art ausgelöst hatte.

„Ihr wart heute wirklich fleißig. Wenn wir so weitermachen, haben wir noch vor Weihnachten den ganzen Stoff durch und können uns danach ans Wiederholen für die Matura machen", verkündete ich meinen Schützlingen gerade. Clara hatte mir geraten, diese Harmonie mit Lexi zu nutzen und sie auf die ganze Klasse zu übertragen, um somit die anderen auch zu motivieren. Sie hatte mir versprochen, dass ich mit dem Effekt zufrieden sein würde und ich musste zugeben, dass ich das wirklich war. Ich war mehr als zufrieden mit meiner Klasse und darum hatte ich sie auch gerade gelobt. „Ach Lucy, wann hast du dich nur so verändert?", fragte ich mich in Gedanken. Ich wusste nicht, ob ich diese Entwicklung der Dinge befürwortete, doch Clara tat es und ich vertraute ihr in diesen Angelegenheiten. Sie hatte das alles immerhin studiert.

Für heute hatte ich mir vorgenommen, die Deutschtests meiner Siebten zu kontrollieren und darum blieb ich noch etwas länger in der Schule. Die Kollegen waren bereits alle nach Hause gefahren, so hatte ich zumindest meine Ruhe und konnte mich im Konferenzzimmer ausbreiten.

Es war bereits dunkel draußen, als ich endlich fertig war und mich gerade auf den Weg zu meinem Auto machen wollte. Dann bemerkte ich jedoch, dass in der Turnhalle noch Licht brannte. Da hatte wohl jemand vergessen, es auszuschalten. Bei Tag fiel das ja immerhin nicht so auf. So machte ich mich kurzerhand auf den Weg hinüber, als ich plötzlich ein Geräusch hörte. Und das war absolut nicht beruhigend, wenn man sich alleine im riesigen Gebäude glaubte. Ich hielt inne, blieb wie angewurzelt stehen. Und da hörte ich es nochmal. Es kam direkt aus der Sporthalle. Ich schlich mich so leise, wie es mir mit meinen hohen Schuhen nur möglich war, an, betätigte sachte die Klinke, öffnete die Tür nur einen Spalt breit und was ich dann sah, verschlug mir die Sprache: Der Kasten war aufgebaut und Lexi Falkner war wirklich gerade dabei, Anlauf zu nehmen! Ich blieb weiterhin mucksmäuschenstill und beobachtete das Spektakel. Was geschah hier bloß? Sie rannte auf das Gerät zu und... machte einen Handstandüberschlag! Einen wunderschönen, gestreckten, eleganten Handstandüberschlag! Wow, es stimmte also wirklich. Sie verstand etwas vom Turnen.

Meine Schülerin hatte mich noch immer nicht bemerkt, doch ich hatte auch nicht vor, sie auf mich aufmerksam zu machen. Ich beobachtete sie einfach weiterhin, wie sie ihre Elemente gekonnt ausführte. Eines nach dem anderen. Teilweise wirklich schwierige, so wie jetzt, wo sie auf der Bodenmatte, die sie sich soeben ausgerollt hatte, zum Rondat-Flick-Flack ansetzte. Ich verfolgte gebannt das Geschehen, hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange stand ich hier schon? Plötzlich brach sie das letzte Element aber ab. Und dann fluchte sie. Und wie sie fluchte, sie rüttelte schreiend an der Sprossenwand und holte gerade zum Schlag gegen das harte Holz aus, da hatte ich mich schon von der Wand, an der ich gelehnt war, abgestoßen und rannte, ohne auch nur darüber nachzudenken, zu ihr. Ich umklammerte mit einem geübten Griff ihren Arm und hielt sie so davon ab, sich durch diesen Schlag selbst zu verletzen. Lexi drehte sich sofort reflexartig zu mir herum und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Dann erkannte ich, dass diese wieder auffallend glänzten und kurze Zeit später liefen auch schon die ersten Tränen über ihre Wangen. Unaufhaltsam. Sie ließ sich die Wand entlang zu Boden sinken und zog ihre Knie eng an ihren Körper. Es war ein besorgniserregender Anblick, der sich mir da bot und ich konnte nicht anders, als Mitleid zu empfinden. „Hey... Alles gut...", versuchte ich sie zu beruhigen. Ich legte zusätzlich noch meine Hand auf ihr linkes Knie. Dann setzte ich mich neben sie und wartete, bis das Schluchzen leiser wurde, bevor ich wieder zu sprechen begann: „Ich kann auch keinen Flick mehr... Sowas verlernt man ohne Übung eben einfach..." Es war noch immer kein Wort über ihre Lippen gekommen, seit sie mich bemerkt hatte, doch ich erkannte an ihrem Blick, dass sie sich fragte, warum ich nicht überrascht von ihrem Talent war. Dann meinte sie mit zittriger Stimme: „Wie lange haben Sie mir zugesehen?" „Ab den Überschlägen am Kasten. Die waren übrigens wunderschön. Wäre ich Kampfrichterin, hätte ich dir in der B-Wertung alle zehn Zusatzpunkte gegeben." Sie lächelte mild, dann erklärte sie: „Wissen Sie, ich habe früher sogar bei Wettkämpfen mitgemacht, bis... Naja, jedenfalls hätte ich mir einfach nicht gedacht, dass ich am Boden so gar nichts mehr kann..." Ich lächelte sie nun an. Zum ersten Mal vermutlich, denn ihr Blick drückte Unglauben aus. „Du hast nicht nur bei Wettkämpfen mitgemacht, sondern dreimal in Folge die Unterstufenwertung bei den Bundesmeisterschaften gewonnen", stellte ich ihre erste Bemerkung richtig. Lexis Augen wurden groß und sie fragte wie aus der Pistole geschossen: „Woher wissen Sie das?" Mein Lächeln wurde unwillkürlich breiter und ich gab zurück: „Naja, nachdem du mir nichts über deine vermeintliche Abneigung gegenüber dieser Sportart erzählen wolltest, habe ich eben begonnen, mich selbst über mögliche Gründe zu informieren. Ich wäre eine schlechte Lehrerin, wenn mir das einfach egal wäre." Gut, mit dem letzten Satz wollte ich sie vermutlich davon überzeugen, dass ich sie nicht auf diversen sozialen Netzwerken stalkte. Oder mich selbst? Ich musste zugeben, dass ich das sehr wohl getan hatte, doch es hatte mich nicht wirklich weitergebracht. Lexi saß jedenfalls nur stumm neben mir und schien angestrengt nachzudenken. Ich musterte ihr Gesicht dabei und mir fiel auf, dass sich diese eine Falte auf ihrer Stirn immer bildete, wenn sie überlegte. Es war irgendwie süß. „Stopp, Lucrezia, was denkst du da schon wieder?", maßregelte mich mein Gewissen. „Woher kennen Sie sich denn in dieser Sportart aus?", wollte sie nun wissen. „Ich habe Sport studiert, da probiert man alles mal. Quer durch die Bank, wenn du es so haben willst." Sie wurde wieder einen Moment ruhig, bis sie mich dann fragte: „Glauben Sie, ich kann je wieder besser werden? Glauben Sie, ich habe eine Chance, die schweren Übungen wieder zu lernen?" Sie wollte wirklich wieder damit anfangen? Da würde ich sie keinesfalls aufhalten. Ich hatte zwar noch immer keine Ahnung, warum sie überhaupt aufgehört hatte, aber vielleicht würde ich des Rätsels Lösung finden, wenn ich das auf eine andere Weise anging. „Davon bin ich überzeugt. Du musst es nur wirklich wollen, dann kannst du alles schaffen, Lexi." Sie schaute gedankenverloren durch die Halle. Musterte die aufgebauten Geräte. Und dann fragte sie etwas, das ich in hundert Jahren nicht aus ihrem Mund erwartet hätte: „Würden Sie... mir denn dabei helfen?"


- A/N -

Neuer Tag - neues Kapitel! Ich habe euch zum besseren Verständnis ein Video von der Turnübung Rondat-Flick-Flack hochgeladen, falls sich jemand nicht auskennt. Ich hoffe, euch gefällt die momentane Wendung in der Beziehung zwischen Lexi und Lucrezia. Das nächste Kapitel kommt wie gewohnt heute Abend... :)

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt