POV Lexi Falkner
Ich fand es echt nett von Tina, dass sie vorbeikommen wollte, auch wenn ich wirklich nicht über den Brief reden wollte. Ich wusste zum Glück, dass sie ihr Versprechen halten und mich nicht ausquetschen würde, denn auch ihr war vermutlich durchaus bewusst, dass ich, wenn die Zeit reif wäre, sowieso zu ihr kommen würde. Das war noch jedes Mal so gewesen.
Nun wartete ich also im Wohnzimmer auf die Ankunft meiner besten Freundin, denn sie würde Pizza dabeihaben und ich hatte das erste Mal seit Tagen wieder Appetit. Das Antibiotikum schien zu wirken, meine Schweißausbrüche hatten nachgelassen und auch die Schmerzmittel verfehlten deren Wirkung nicht. Ich fühlte mich körperlich schon wieder besser. Nur was blieb, war dieser höllische seelische Schmerz. Ich vermisste Julie. Jeden Tag mehr. Und doch wusste ich, dass sie dadurch auch nicht mehr zu mir zurückkäme.
„Hey! Hier ist Ihr Lieferservice. Es ist schön, dass Sie mit Ihrem Pizzaboten gemeinsam essen wollen", frohlockte Tina gerade und betrat dann auch schon die Küche. Wir schnappten uns beide noch etwas zu trinken und machten es uns dann auf dem Sofa bequem. „Welchen Film schauen wir?" Ich lächelte ein wenig und meinte dann: „Deinen Lieblingsfilm." Sie strahlte bis über beide Ohren und machte „Magic Mike" an. Ihr gefielen diese Stripper und ich persönlich fand die Frauen, die mitspielten, echt scharf.
Und da fiel es mir wieder ein. Da realisierte ich es erst wirklich: Meine Schwester war lesbisch gewesen. Ich hätte ihr nicht nur ohne Bedenken von meiner Sexualität berichten können, sondern auch noch auf Augenhöhe mit ihr darüber reden! Und ich bräuchte sie gerade mehr als je zuvor. Womit hatte ich diesen Verlust nur verdient...
Mir waren wieder die Tränen gekommen und ich wischte sie schnell weg. Ich wollte nicht, dass Tina etwas bemerkte, doch aufmerksam, wie sie war, hatte sie das schon längst mitbekommen. Anstatt jedoch etwas zu sagen, nahm sie mich nur in die Arme und hielt mich. Ganz fest. Eine Minute. Zwei. Vielleicht zehn. Sie ließ mich nicht los und ich beruhigte mich langsam wieder. Es war schön, zu wissen, dass jemand bedingungslos für dich da war, selbst wenn du gerade nicht mal mit demjenigen reden wolltest. Ich war so unglaublich dankbar für alles, was meine beste Freundin für mich schon getan hatte und immer noch tat und das drückte ich nun mit einem einzigen, extrem aufrichtig gesprochenen Wort aus, das ich in ihre Richtung hauchte: „Danke..."
Eine ganze Weile später ergriff meine beste Freundin nochmal vorsichtig das Wort: „Bist du sicher, dass du nicht reden willst?" Ich hatte geahnt, dass sie nicht so leicht aufgeben würde, wusste aber auch, dass sie mir einfach nur helfen wollte. Trotzdem schüttelte ich nur wortlos den Kopf. Vielleicht würde ich ihr irgendwann mal von dem Brief erzählen, doch zuerst musste ich diese ganzen damit verbundenen Gefühle und Emotionen selbst verarbeiten. Das war vielleicht ein wenig egozentrisch, doch ich hatte das Gefühl, diese Information gehörte vorerst mir ganz allein. Ich hatte es in der Hand, mit wem und ob ich sie teilen wollte und im Moment kam es mir so vor, als würde ich schweigen, da dieser Brief das Einzige war, das mir von meiner Schwester geblieben war. Ich wollte zuerst selbst mit mir im Reinen sein und Julies Beweggründe vielleicht zumindest nachvollziehen können, bevor ich Tina einweihte. „Alles klar, kann ich dir sonst irgendwie helfen? Dir etwas Gutes tun?" Wieder schwieg ich einige Zeit, bevor ich ihr mit einem milden Lächeln im Gesicht antwortete: „Sei einfach nur da. Das ist alles, was ich jetzt brauche."
Während Tina wieder in den Film vertieft war, dachte ich erneut über die letzten Worte meiner Schwester nach. Sie hatte mir mehr oder weniger das Versprechen abgenommen, niemals mit dem Turnen aufzuhören. Doch genau das hatte ich nach ihrem Tod getan. Ich hatte keine Sekunde mehr daran erinnert werden wollen, was wir gemeinsam schaffen hätten können. Ich hatte keine Sekunde länger diesen Schmerz spüren wollen, diese Leere, die sich in mir breitgemacht hatte, weil sie fehlte. Nach den zwei Monaten Pause, die ich mir von der Welt gegönnt hatte, hatte ich meiner Trainerin sofort mitgeteilt, dass ich diesen Sport nicht mehr ausüben würde und obwohl sie anfangs noch versucht hatte, mich doch noch vom Gegenteil zu überzeugen, hatte sie irgendwann eingesehen, dass sie ihre beste Sportlerin verloren hatte. Ihre beiden besten Sportlerinnen. Sie hatte es akzeptiert, denn auch ihr war Julies Tod sehr nahe gegangen. Wir hatten beide nämlich immer ein gutes Verhältnis zu Nadine gehabt.
Meine Gedanken schweiften weiter ab. Ich wunderte mich gerade, wie viel ich denn bereits verlernt hätte. War Turnen nicht wie Fahrrad fahren? Man müsste es nur wieder versuchen und könnte es? Ich schüttelte nun stumm den Kopf, ganz so als wollte ich mich selbst zur Vernunft bringen. Einen Moment lang hatte ich nämlich ernsthaft in Erwägung gezogen, diese Sportart wieder mal zu probieren, doch ich konnte nicht. Irgendetwas blockierte mich. Ich hatte mir damals geschworen, keines dieser Geräte je auch nur wieder anzurühren und dabei würde es auch bleiben. Daran veränderte selbst Julies Brief nichts.
„Willst du auch noch was trinken?", unterbrach Tina nun wieder meine Gedanken. Es war schon lustig, wie sie mich in meinem eigenen Haus bediente. Aber eigentlich wohnte sie ja auch schon fast hier, so oft, wie sie früher bei mir übernachtet hatte. „Nein danke. Ich bin wirklich müde... Ist es okay, wenn ich dich dann bitte, zu gehen?", fragte ich, denn ich konnte meine Augen kaum noch offenhalten. „Ja klar. Bist du sicher, dass ich nicht doch über Nacht bleiben soll?" Doch ich verneinte. Ich wollte nicht, dass sie mitbekam, wie ich mehrmals schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte. Nicht schon wieder. Das hatte sie vor drei Jahren schon miterleben müssen und es war mir irgendwo auch peinlich, dass ich das immer noch nicht beziehungsweise schon wieder nicht mehr im Griff hatte. So verabschiedete sie sich kurze Zeit später dann auch wirklich mit einer innigen Umarmung von mir und ich bedankte mich erneut, doch sie meinte, das sei alles selbstverständlich. Womit hatte ich diese Freundin nur verdient? Ich sollte mich glücklich schätzen und doch legte sich wieder dieses bedrückende Gefühl auf mich, sobald sie das Haus verlassen hatte. Ich hatte Angst vor der Nacht, doch ich war trotzdem lieber alleine, als Tina noch größere Sorgen zu bereiten. Es gab Phasen im Leben, durch die musste man wohl eben einfach alleine durch, auch wenn das hier sich schön langsam nicht mehr nur wie eine Phase anfühlte...
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In you I found remedy
Teen Fiction[Abgeschlossen] Mir ist danach, dich besser kennenzulernen. Vielleicht ist das dumm, naiv, aber..." Doch sie unterbrach mich: „Was möchtest du denn wissen?" „Das ist eine gute Frage. Nicht nur die Basics zumindest. Also schon auch, aber mehr noch, w...