#75 Wir stehen das gemeinsam durch

1.3K 94 23
                                    

POV Lucrezia Villani

Es waren noch einige Nächte vergangen, seit ich meine beste Freundin um Rat gefragt hatte und in jeder einzelnen hatte Lexi schlecht geträumt. Sie hatte eine regelrechte Verlustangst mir gegenüber entwickelt und diese Tatsache bestärkte mich in meinem Entschluss, Claras Rat wirklich zu befolgen. Ich wurde immer nervöser, je näher das Ende meines Schultags rückte. Eine Stunde Deutsch trennte mich nun noch davon, meine Freundin mit ihrer wohl größten Angst zu konfrontieren. Es war ein regelrecht heißer Junitag und die letzte Schulwoche rückte immer näher, weshalb ich während der Deutschstunde nicht mehr wirklich viel zu tun hatte. Das war auch der Grund, wieso meine Gedanken so leicht zu Lexi schweiften. Sie saß bestimmt zuhause und schaute Netflix oder beschäftigte sich anderweitig. Noch wusste sie überhaupt nichts von meinem Vorhaben und das war auch gut so.

*drrrrr* Endlich. Die erlösende Klingel. Ich fühlte mich in meine eigene Schulzeit zurückversetzt, als ich hastig meine Sachen packte und aus dem Raum stürmte. Nichts wie heim.

„Hey Tesoro! Ich bin wieder da-a!", rief ich, als ich die Wohnung betreten hatte und sofort tapste eine in Jogginghose und Shirt bekleidete Lexi auf mich zu. Ich gab ihr einen Kuss, danach machte ich mich auf den Weg ins Bad, um mir erstmal meine Hände zu waschen. Diese waren heute nämlich unangenehm feucht, weil ich so aufgeregt war. Ich war immer noch nicht ganz überzeugt von meinem Plan, doch ich rief mir Claras Worte in Dauerschleife in Erinnerung und diese beruhigten mich enorm. Die Zuversicht gewann im Endeffekt die Überhand und ich meinte zu Lexi: „Ich möchte mit dir heute einen Ausflug machen. Aber versuch erst gar nicht, herauszubekommen, wohin. Vertrau mir einfach, ja?" Meine Freundin reagierte erst ein wenig skeptisch, willigte dann aber ein und wir beschlossen, einige Snacks einzupacken, da die Fahrt lang werden würde. „Weißt du Lucy, ich liebe dich für solch spontane, geheimnisvolle Aktionen." Ich verschluckte mich an meinem Glas Wasser, das ich gerade trank und erst als ich mich wieder gefangen hatte, lächelte ich die Worte meiner Freundin gekonnt weg. Die Angst, sie würde mir das nie verzeihen, stieg ins Unermessliche, doch ich hatte den Point-of-no-Return bereits passiert und somit würde ich das jetzt auch durchziehen.

Wir waren nun schon seit mehr als zwei Stunden unterwegs und Lexi hatte auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Sie hatte immer noch nicht aus mir herausbekommen, wo es hinging, doch sie vertraute mir offenbar. Nicht nur, dass sie schlief, was wohl das größte Lob an einen Fahrer war, das es nur gab, nein, sie war offensichtlich fest davon überzeugt, dass ich nichts Schlimmes plante. Was ja auch nicht der Fall war, zu meiner Verteidigung. Ich hatte nur so eine böse Vorahnung, dass sie mir die Destination unseres Ausflugs sehr übelnehmen würde, auch wenn meine Absicht dahinter eine gute war. Wiederum konnte ich nur hoffen, dass sie meine Beweggründe verstehen und sich darauf einlassen würde. Zwingen könnte ich sie natürlich zu nichts, doch ich würde für sie da sein. Ich würde das mit ihr zusammen durchstehen, so wie Clara es verlangt hatte. Leise drehte ich Musik auf, um mein Gedankenkarussell zum Stillstand zu bringen. Es machte mich verrückt, zu wissen, dass meine Freundin nicht so einfach zu überzeugen wäre und die Angst, sie würde mich von sich stoßen, war unerträglich. Trotzdem trat ich unbeirrt weiter aufs Gas.

Mein Wagen ratterte über die Schotterstraße und wenige hundert Meter unter uns erblickte ich auch schon unser Ziel: den See, an dem meine Eltern eine Hütte hatten. Ich hatte gestern noch meine Mutter angerufen und ihr von meiner Beziehung erzählt. Auch sie schien sich zu freuen und sie hatte mich gebeten, ihr die Glückliche bald vorzustellen. Im selben Telefonat hatte ich sie aber auch noch um das O.K. gebeten, mit dieser „Glücklichen" ein Wochenende am See zu verbringen. Nun bestaunte ich das in der Sonne glitzernde Wasser, das auf der einen Seite von Bäumen umgeben war. Am anderen Ufer erkannte man den letzten Teil des Schotterwegs, den wir gerade hinabfuhren und der dann zu den kleinen Holzhütten führte. Neben ihm ragte das Schilf aus dem Wasser. Ich war selbst erst zweimal hier gewesen, denn meine Eltern hatten die Hütte erst vor Kurzem gekauft, trotzdem fühlte es sich aber an, als würde ich nach Hause fahren. Irgendetwas hier war besonders.

Plötzlich regte sich die junge Frau neben mir und ich machte mich darauf gefasst, dass sie mich gleich darauf ansprechen würde, wieso ich sie zu einem See brachte. Doch dass sie so heftig reagieren würde, das hatte ich nicht erwartet. „Was?! Was zur Hölle machen wir hier?! Halt sofort an!", ihr wich umgehend jegliche Farbe aus dem Gesicht und sie begann am ganzen Leib zu zittern. „Beruhige dich, wir gehen es ganz langsam an, versprochen. Du musst auch nicht zum Wasser gehen, wenn du das nicht willst, ich...", doch weiter kam ich nicht, denn sie fiel mir aufgebracht ins Wort. „ANHALTEN HAB ICH GESAGT! HALTE. DEN. VERDAMMTEN. WAGEN. AN, LUCREZIA!" Sie brüllte und schlug um sich, als würde sie gerade zur Schlachtbank geführt werden. Ich hatte erwartet, dass sie sich beschweren würde, doch das erreichte ein völlig neues Level. Erneut versuchte ich, sie zu beruhigen, doch sie schien meine Worte gar nicht zu hören. Ich fuhr mittlerweile nur noch in Schrittgeschwindigkeit, doch je weiter wir uns dem Wasser näherten, desto aggressiver wurde sie: „ICH HASSE DICH!" Das waren im Endeffekt die Worte, die mich dann dazu veranlassten, die Bremse zu betätigen und keine Sekunde später riss Lexi auch schon die Autotür auf und sprang hinaus. Sie fiel zu Boden und atmete, als würde sie keine Luft bekommen. Ich machte mir jetzt ernsthafte Sorgen und hastete zu ihr, doch als ich ihr aufhelfen wollte, stieß sie mich grob von sich, sodass ich zu Boden fiel und unsanft am Kies landete. Nun traf ihr Blick den meinen und ich konnte schwören, sie würde mich am liebsten töten. Da war so viel Hass vermischt mit so viel Leid und Schmerz, dass auch mir die Tränen kamen. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?! Ich hätte doch annehmen müssen, dass ihre Ängste nicht unbegründet waren! Ich war eine schlechte Freundin. Ein schlechter Mensch. Wie konnte ich ihr das nur antun? Jetzt, wo ich sie hier am Boden hocken sah, nach Luft ringend und vollkommen verschwitzt, erst jetzt erkannte ich das Ausmaß ihrer Panikstörung. Erst jetzt verstand ich, wieso sie damals zu mir gemeint hatte, es hätte ewig gedauert, bis sie auch nur in die Nähe eines Freibads gehen hatte können. Jetzt setzten sich all die Teile zusammen und ich fühlte mich so schlecht wie nie zuvor. Ich fügte ihr viel mehr Leid zu, als ich ihr nahm und auch wenn das niemals meine Intention gewesen war, für Lexi musste es so aussehen, als hätte ich genau das gewollt und das versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Für einen Rückzieher war es nun aber definitiv zu spät und so entschied ich mich dazu, ihr die Zeit zu geben, die sie brauchte und es dann trotzdem nochmal zu versuchen. Clara hatte gemeint, sie mit ihrer größten Angst zu konfrontieren, wäre ihre einzige Chance, das jemals hinter sich zu lassen. Und ich klammerte mich an diese Worte wie ein Kind, das seine Mutter nicht gehen lassen wollte, wenn es Zeit zu schlafen war. Irgendetwas musste da ja dran sein, oder? Doch ich hatte eine unglaubliche Angst, mit dieser Aktion gerade alles zwischen uns zerstört zu haben. Angst, sie würde mit meiner Person nun ebenfalls Leid assoziieren. Hasste sie mich nun wirklich? „Ich könnte es ihr ja nicht mal verübeln..."

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt