#78 Es hat sich kaum etwas verändert...

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POV Lucrezia Villani

Ein Stützrad. Ich fühlte mich wie ein Stützrad für meine Freundin. Aber leider nur wie ein einziges, was sie wohl auch ziemlich ins Wanken brachte. Anfangs hatte ich gedacht, sie würde mich für diese wackelige Aktion hassen, jetzt schien sie mir aber beinahe dankbar. Also war ein Rad besser als nichts, oder? Wir hatten es mittlerweile geschafft, uns dem Wasser zu nähern. Zwar waren wir noch nicht an den Steg gegangen, an dem alles geschehen war, aber ich hatte Lexi dazu bringen können, einfach mal ihre Hand ins kühle Nass zu halten und das hatte erstaunlich gut funktioniert. Gerade waren wir auf dem Weg zu den Ferienhäuschen, wobei in mir immer mehr die Befürchtung laut wurde, Lexi würde genau vor jenem meiner Eltern Halt machen und mir erklären, dass dieses das Gebäude sei, mit dem sie ihre traumatischsten Erlebnisse verband. Langsam setzten sich alle Informationen nämlich wie ein Puzzle in meinem Gehirn zusammen und ich vermutete nun wirklich, dass meine Eltern die Hütte von Lexis Mutter gekauft hatten. Der Zeitpunkt würde passen und auch als meine Freundin vorhin die Schaukel im Garten erwähnt hatte, war vor meinem geistigen Auge sofort dieses Bild aufgetaucht, wo ich mit meiner Schwester Ludo schaukelte, als wären wir Kinder. Natürlich bestand genauso gut die Möglichkeit, dass andere Hütten in den Gärten dahinter ebenfalls über so ein Spielgerät verfügten, doch ich wurde das mulmige Gefühl einfach nicht los, dass Lexi und ich wirklich von ein und demselben Gebäude sprachen.

„Können wir bitte nochmal stehenbleiben?" Ich hatte eigentlich geglaubt, meine Freundin bräuchte wieder mal eine Pause. Immerhin hatten wir den Großteil des Weges ohne wirkliche Zwischenfälle zurückgelegt. Als Lexi aber meine Hand losließ und sich einige Schritte von mir entfernte, war ich doch ein wenig skeptisch. Sie schien etwas zu suchen. Was hatte sie vor? Sie stoppte, drehte sich zu mir um und meinte: „Kommst du mit? Ich muss da rauf." Ich sah mich ebenfalls um und erkannte einen schmalen Weg, der einen leichten Hang hinaufführte. Oben befand sich ein Laubwald und meine ehemalige Schülerin steuerte geradewegs darauf zu. Viel länger konnte ich nicht darüber nachdenken, immerhin hatte ich ihr ja versprochen, an ihrer Seite zu bleiben und so folgte ich ihr auf diesen kleinen Umweg.

„Was hast du vor?", wollte ich nun vorsichtig wissen, doch Lexi blieb stumm. Irgendwann gab sie zurück: „Das muss ich selbst erst herausfinden..." Dieses geheimnisvolle Getue löste in mir Unwohlsein aus, trotzdem folgte ich ihr weiterhin und dann erkannte ich auch, dass ihr Ausflug in diesen Wald hinein einen guten Grund gehabt hatte. Vor uns unter einer Eiche befand sich nämlich eine Art Gedenkstätte mit einem mittlerweile sehr ausgebleichten Bild von Julie und einigen ausgebrannten Kerzen. Die Blumen waren bereits trocken und braun, es schien, als sei hier nicht mehr wirklich jemand hergekommen und das stimmte mich traurig. Auch Lexi schien der Anblick dieser Stätte ein wenig zu bedrücken, trotzdem meinte sie: „Ich hätte nicht mal mehr gedacht, dass wir hier überhaupt noch etwas finden... Von dem her ist das eigentlich schon mal etwas." Ich fasste ihr ans Kinn und drehte ihren Kopf ganz leicht zu mir, bevor ich flüsterte: „Wir richten das wieder her, ja? Alle, die hier vorbeikommen, sollen Julie gedenken. Sich an sie erinnern." Dann küsste ich meine lächelnde Freundin sanft und als ich mich von ihr löste, meinte sie: „Wenn Julie das nur gerade sehen hätte können... Sie hätte vielleicht gemerkt, dass es nicht verwerflich ist, das gleiche Geschlecht zu lieben. Dass Liebe nie verwerflich ist, sondern das Schönste und Ehrlichste, was es gibt..." Nun lächelte auch ich und ich nickte zustimmend, dann machten wir uns wieder auf den Weg nach unten, um unser eigentliches Ziel – die Hütte – zu erreichen.

Meine Befürchtungen hatten sich also bewahrheitet. Lexi steuerte geradewegs auf unsere Hütte zu. Sollte ich es ihr sagen? Natürlich. Aber wie denn? „Hier... Hier ist sie", gab die Liebe meines Lebens kleinlaut und verunsichert von sich. Ich hingegen sagte nichts, trat nur auf das schmale Gartentor zu und öffnete es dann, indem ich die Messingklinke hinunterdrückte. „Nein, Lucy, warte. Du kannst da nicht einfach reingehen, die gehört jetzt doch jemandem!" Ich aber biss mir nur nervös auf die Unterlippe und fragte dann: „Möchtest du hinein? Also... Würde es dir helfen, Frieden zu schließen, wenn wir uns das Bauwerk genauer ansehen?" Es könnte hier nur zwei Extrema als Antwort geben, oder? Entweder Lexi war absolut dagegen und wollte einfach nichts mehr von alldem wissen, oder sie meinte, sie bräuchte die Gewissheit darüber, was sich alles verändert hatte, um abschließen zu können. Eine Weile schien sie zu zögern, nicht zu wissen, was sie wirklich wollte, dann äußerte sie hingegen ihre Bedenken: „Ich... Ich will schon irgendwie rein... Aber wie willst du das anstellen? Das wäre Einbruch!" Nun musste ich ein wenig schmunzeln, bevor ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche kramte und ihn vor Lexis Gesicht schwenkte. „Wie hast du... Wie bist du... Nein! Nein als ob!", entfuhr es ihr, als sie kapiert hatte, was hier abging. „Das ist eure Hütte?" Ich nickte nur ein wenig entschuldigend, fügte jedoch sogleich hinzu: „Ja, ich wusste auch nicht, dass es sich hier um die gleiche handelt... Ich hab ja nicht mal gewusst, dass wir uns an demselben See befinden! Aber wer weiß, vielleicht war unser Schicksal wirklich vorherbestimmt? Vielleicht wollte eine höhere Macht – nenn sie, wie du willst – dass sich unsere Wege kreuzen, damit du von deinen Dämonen befreit wirst? Sehen wir das alles als Chance, okay?" Meine Freundin schien es immer noch nicht ganz glauben zu können. „Als Chance... Alles klar... Dann... Begleitest du mich", sie deutete ein wenig unsicher auf die hölzerne Eingangstür, „da rein?"

Die Tür knarzte, als ich sie vorsichtig aufdrückte. Ich warf Lexi noch einen beruhigenden Blick zu, ergriff wieder ihre Hand und folgte ihr dann ins Innere des Bauwerks. Meine Freundin blickte erstaunt umher. „Wahnsinn. Es ist irgendwie wie früher und trotzdem anders... Ich kann dir aber gar nicht mal sagen, was sich genau verändert hat..." Wir sahen uns im unteren Stock ein wenig um. Plötzlich ließ Lexi meine Hand los und steuerte auf einen Schrank zu. „Wäre es in Ordnung, wenn ich da reinschaue?" „Du musst mich das nicht fragen, Tesoro. Du darfst hier alles tun, immerhin gehörte diese Hütte ja mal deiner Familie!" Sie nickte und öffnete die Schranktür. Nach einer Weile des Herumkramens zog sie etwas hervor, das meinen Atem ein wenig zum Stocken brachte. „UNO-Karten?" Sie nickte mit aufeinandergepressten Lippen. „Ich denke, die hat meine Mutter dann einfach hiergelassen... Wer will schon immer wieder daran erinnert werden?" Ich erkannte, dass ihr die Tränen kamen und zog sie in eine Umarmung. „Möchtest du sie... mitnehmen?" Lexi löste sich ein wenig von mir, sodass wir uns ansehen konnten und meinte: „Wäre das denn okay?" Ich lächelte nur und gab zurück: „Klar doch, es wird meinen Eltern vermutlich nicht mal auffallen. Und wenn doch, kauf ich ihnen neue. Für sie hat dieses Deck Karten ja keine so große Bedeutung..."

Wir hatten nun bereits den oberen Stock erreicht, in dem sich zwei Schlafzimmer befanden. Ludovica und ich schliefen normalerweise in dem Raum mit den beiden Einzelbetten, der vermutlich auch jener gewesen war, den Lexi und Julie immer bewohnt hatten. Der Gedanke, dass meine jetzige Freundin schon damals im gleichen Bett geschlafen haben könnte, in dem ich auch schon einige Nächte verbracht hatte, brachte mich zum Lächeln. „Welches war denn dein Bett?", fragte ich nach, um mir meine Hypothese bestätigen zu lassen. Lexi deutete auf jenes am Fenster und erklärte mir mit einem milden Lächeln: „Julie hat immer Angst gehabt vor der Fensterseite. Das war daheim auch immer so, deshalb schlief sie auch hier an der Wand." Ich lächelte ebenfalls, auch wenn Lexis Worte durch meinen Gedanken an den viel zu frühen Tod ihrer Schwester irgendwie einen bitteren Beigeschmack bekommen hatten. Wir ließen uns auf das Fensterbett nieder und sprachen eine Zeit lang gar nichts. Ich merkte, dass Lexi das gerade brauchte. Einfach meine bloße Anwesenheit, trotzdem aber genügend Raum zum Nachdenken. Irgendwann durchbrach ich dann doch die Stille. „Woran denkst du, Lexi?" Sie schreckte ein wenig hoch, so als hätte ich sie gerade wieder in die Gegenwart zurückgeholt, erzählte mir dann aber von einer wunderschönen Erinnerung: „Einmal haben wir beschlossen, aus dem Fenster auf dieses schmale Vordach da draußen zu klettern. Damals war Sternschnuppennacht. Ich habe etwa zwanzig gesehen und bei jeder einzelnen haben wir gekreischt und uns sofort die Augen zugehalten, um uns etwas zu wünschen. Das waren so kleine Momente, in der ich die Verbundenheit zu meiner Schwester einfach so gespürt habe. Das vermisse ich..." Ich streichelte ihr sanft mit meiner linken Hand über den Rücken. Sagen konnte ich nichts, denn mich rührte diese Geschichte sehr. Sie erinnerte mich an meine Kindheit mit Ludo und ein weiteres Mal war ich froh, meine Schwester noch an meiner Seite zu haben.

„Ich denke, ich habe genug gesehen hier drinnen. Danke, dass du mir das ermöglicht hast, irgendwie gibt es mir ein wenig Seelenfrieden, zu wissen, dass sich nicht alles hier verändert hat..." Ich nickte verständnisvoll. „Möchtest du... Also...", ich hatte keine Ahnung, ob Lexi schon so weit war, doch ich musste meinen Vorschlag gar nicht zu Ende bringen, da bejahte sie schon. „Lass uns zum Steg gehen. Ich denke, ich bin so weit."


- A/N -

Die Geschichte neigt sich langsam aber sicher dem Ende zu. Ich sage es nur ungern, aber wir haben nur noch zwei Kapitel vor uns, die ich morgen beide veröffentlichen werde. Ich möchte mich an dieser Stelle bereits nochmal bei euch allen hier bedanken, ich hätte nie erwartet, dass meine Story wirklich gelesen wird. Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen! Schönen Abend noch!

Eure the_fire_of_desire <3

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