#50 Die Ruhe vor dem Sturm

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POV Lexi Falkner

„Steh auf, wir müssen in fünfzehn Minuten aus dem Zimmer raus sein...", versuchte mich Tina zum wiederholten Male aus meinem Bett zu bekommen. „Du hast das Frühstück schon verpasst, es wird echt Zeit, dass du aufstehst." „Ich will nicht", gab ich emotionslos zurück. Das Einzige, was ich wollte, war vom Erdboden verschluckt zu werden, ohne je wieder aufzutauchen. „Du weißt, dass das nicht geht", antwortete Tina auf meine Grübelei. Ich hatte meinen Wunsch wohl laut ausgesprochen. „Ich weiß, dass du dich scheiße fühlst und dass wir nicht viel geschlafen haben, aber sieh es positiv: Du hast die Chance, zuhause mit Lucrezia zu reden, wie wir es besprochen haben. Sie bereut den Verlauf des gestrigen Abends bestimmt ebenso!" Ich seufzte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass reden da noch was brächte. Sie hatte mich geschlagen. Geschlagen! Mir außerdem Vorwürfe gemacht, die absoluter Bullshit waren, doch mich nicht mal zu Wort kommen lassen, um ihr das vor Augen zu führen. Wieso sollte sie dann heute mit mir reden wollen? „Uns läuft die Zeit davon, Lexi. Wir müssen um zehn hier raus sein. Wenn du es schon nicht für dich machst, dann tu es wenigstens für mich. Ich schäme mich nämlich, wenn wir zu spät kommen und der Putzfrau zusätzlich noch erklären müssen, warum sie die Endreinigung noch nicht durchführen kann." Ich schnaubte verächtlich. „Du und deine Regeln, an die du dich immer halten musst... Aber ist ja gut, ich steh schon auf..." Tina war nun mal die Sorte Mensch, die es nicht leiden konnte, negativ aufzufallen. Sie war immer überpünktlich und genau und ich erhob mich gerade wirklich nur ihr zuliebe aus meinem kuscheligen, warmen Bett. „Na geht doch", murrte sie, aber ich wusste, sie meinte das nicht böse. Sie war eher erleichtert.

Keine zehn Minuten später standen wir dann wirklich am Bus und warteten auf das Verladen unserer Koffer. Ich hatte Lucrezia vorhin erst erspäht. Sie sah aus wie immer: gefasst und professionell, dass ich mich fürchtete. Doch es war nicht nur das, was mir Unwohlsein bereitete, es war noch eher die Tatsache, dass ihr unsere Auseinandersetzung nicht mal annähernd so nahe gegangen zu sein schien wie mir. Tränen bahnten sich wieder den Weg in meine Augen, doch ich unterdrückte den Drang, mich ihnen hinzugeben, gekonnt. Die jahrelange Übung zahlte sich endlich aus. „Ich besetz uns einen Platz so weit hinten wie möglich", raunte mir Tina ins Ohr, sodass niemand etwas mitbekam und ich war ihr dankbar für ihre umsichtige Art. Dann stieg auch ich irgendwann die Treppen hoch ins Innere des Fahrzeugs und hielt meinen Blick bewusst gesenkt. Ich musste an Lucrezias Sitz vorbeigehen und wollte ihr nicht die Möglichkeit geben, in mein Innerstes zu sehen, obwohl sie mich ja sowieso lesen konnte wie ein offenes Buch. Trotzdem fühlte ich mich so zerbrechlich, als ich an ihr vorüberschlich. Es war, als ob sie mir nur mit einem einzigen Blick den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Meine Hände begannen zu schwitzen und zu zittern und als ich endlich Tina erspähte, die einen Platz in der vorletzten Reihe ergattert hatte, fühlte es sich an, als wäre ich ein Schiff, dem nach einer langen Reise auf hoher, stürmischer See endlich die Einfahrt in den sicheren Hafen gewährt und somit zumindest eine Zeit lang eine Pause von der fürchterlichen Realität gestattet wurde. Bis es eben die Rückfahrt antreten müsste. Doch das war vorerst ein Problem für mein Zukunfts-Ich.

Die bisherige Fahrt über hatte ich geschwiegen. Ich hatte Musik in meine Ohren gegeben, die meine Stimmung logischerweise nicht gerade hob. Wenn ich deprimiert war, dann musste auch dementsprechende Depri-Musik her, so war ich nun mal. Ich hatte wohl masochistische Züge, was das betraf. Gerade lief ein italienischer Song mit dem französischen Titel „C'est la vie", der die Gesamtsituation nun wirklich nicht besser machte, weil er mich nur noch deutlicher daran erinnerte, dass meine italienische Freundin und ich gerade eine Krise durchlebten. Trotzdem drehte ich lauter, denn ich wollte voll und ganz in meiner Welt versinken, was mir auch vollständig gelang. Denn es war wahr: Unfair und gemein - so war das Leben.

Erst ein unsanfter Schlag gegen meinen Oberarm brachte mich dazu, die Augen wieder zu öffnen und in die meiner besten Freundin zu schauen, die mich erwartungsvoll anblickte. Ich atmete genervt aus, nahm dann aber meine Kopfhörer aus den Ohren und blickte sie fragend an. „Wir bleiben gleich stehen. Du meintest vorhin ja, dass du aufs Klo musst und ich dachte, ich gebe dir Bescheid." Ich bedankte mich, denn Tina hatte meine schlechte Laune nun wirklich nicht verdient und dann merkte ich auch schon, wie der Bus von der Autobahn abfuhr und eine Raststation in Sicht kam. Wollte ich da wirklich raus? Sicher, was hatte ich schon zu verlieren? Lucy würde sowieso nicht mit mir reden, das ließe ihr Stolz doch niemals zu. Also stieg ich aus dem Fahrzeug, diesmal hinten, da der Fahrer diese Tür nun glücklicherweise auch öffnete und dann betrat ich das Gebäude.

Nachdem ich sicher eine Minute lang umhergeirrt war, bis ich die Toiletten gefunden hatte, machte ich mich zielstrebig auf den Weg dorthin und als ich gerade dabei war, meine Hände zu waschen, schwang erneut die Tür auf und - wie sollte es auch anders sein - keine Geringere als Lucrezia Villani trat ein. Mein Atem stockte und sofort wuchs der Druck in meiner Brust ins Unermessliche. Es fühlte sich an wie eine Panikattacke, nur dass die Kurzatmigkeit sich zwar ankündigte, jedoch nie eintraf. Ich starrte sie an, bis sie endlich die bedrückende Stille brach und zu sprechen begann: „Lexi, ich... Es tut mir leid, ich wollte dich nicht schlagen... Ich weiß nicht, was gestern mit mir los war, das hätte niemals passieren dürfen..." Nie hätte ich erwartet, dass sie sich entschuldigen würde. Umso glücklicher war ich dafür gerade. Trotzdem war da noch irgendwo Angst in meinen Gliedern, die ich einfach nicht loswurde. Ich versuchte, sie einfach zu ignorieren, doch sie wuchs und wuchs, bis Lucy mich mit ihren Worten ablenkte: „Kannst du mir das verzeihen?" Ich schloss meine Augen und atmete tief durch, dann presste ich hervor: „Ja. Weil ich dir immer wieder alles verzeihen würde und genau da liegt das Problem." Sie schien einerseits geschmeichelt, andererseits verwirrt. „Wie meinst du das denn jetzt?" „Naja, du wirfst mir Dinge an den Kopf, die nicht mal ansatzweise so passiert sind und gibst mir nicht mal die Chance, mich zu erklären. Und trotzdem kann ich dir einfach nicht böse sein. Ich habe plötzlich Angst vor dir, Lucrezia, Angst! Du schlägst mich und doch nehme ich dir das kein bisschen übel. Du bringst mich dazu, mich sogar vor mir selbst zu fürchten und ich fühle mich in deiner Gegenwart immer öfter klein. Nutzlos. Unreif. Minderwertig. Doch das bin ich nicht. Ich bin etwas wert. Ich bin reif genug, unsere verdammte Beziehung geheim zu halten. Ich habe alles im Griff, auch wenn du das offenbar nicht glauben kannst. Nichtsdestotrotz bist du es, die meint, sie müsste sich so dermaßen von mir distanzieren, dass die anderen eher stutzig werden, weil wir uns so überprofessionell verhalten. Du gibst mir fucking Theaterkarten von unten, damit du mich ja weit genug entfernt von dir hast. Du redest kein normales Wort mit mir, wenn, dann schreist du mich ohne Grund an. Du bestrafst mich härter, als alle anderen. Du verhältst dich einfach überkorrekt. Und trotzdem liebe ich dir so sehr, dass ich dir auch das schon längst verziehen habe. Ich wünschte nur, du würdest mir einfach vertrauen...", ich hatte all das gemurmelt, ja beinahe geflüstert, um zu verhindern, dass auch nur irgendjemand einen Wortfetzen mitbekommen könnte. Das WC war zwar leer, doch man konnte nie vorsichtig genug sein. Das dachte ich zumindest, bis mich der Drang überkam, meine sprachlose Freundin zu küssen, die mich nur aus großen Augen anstarrte. Ich lehnte mich langsam zu ihr, spürte schon ihren Atem in meinem Gesicht. Sie war immer noch wie erstarrt. Meine Angst und mein Unmut wichen der Vorfreude auf ihre Lippen, die mir stets all die Last von meinen Schultern nehmen konnten. Ich wollte nichts sehnlicher, als sie auf meinen zu spüren, da berührten sie sich auch schon und initiierten einen Tanz, der einen glauben ließ, sie hätten nie etwas anderes getan. Als hätten sie keine drei Tage Pause gefüllt von Unstimmigkeiten und Schmerz erlebt. Es fühlte sich an, als würde ich gerade repariert werden. Als würden sich alle kaputten Teile gerade von selbst wieder zusammensetzen. Für einen Moment schien meine Welt heil. Für einen klitzekleinen Moment waren all meine Ängste wie weggeblasen. Doch ich ahnte nicht, dass das nur die Ruhe vor dem größten Sturm war, den Lucrezia und ich wohl je erleben würden, denn plötzlich und ganz ohne Vorwarnung wurde die Tür mit einer unglaublichen Wucht aufgerissen, sodass ich erschrocken zusammenfuhr...

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