#76 Pure Panik

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POV Lexi Falkner

Ich wusste nicht, wie mir geschah. Meine Lungen verlangten nach Luft, doch es fühlte sich an, als würde ihnen diese verwehrt bleiben. Mein Körper zitterte und mein Herz klopfte unentwegt gegen meine Rippen, sodass es schmerzte. Ich hatte mir damals geschworen, hier nie wieder herzukommen. Ich hatte es mir geschworen! Und nun kauerte ich hier wie das letzte Häufchen Elend und schaffte es nicht, meine Atmung zu normalisieren. All die Beruhigungstechniken, die ich in meiner Therapie nach Julies Tod erlernt hatte, schienen sich aus meinem Gedächtnis verabschiedet zu haben. Einfach futsch. Es war wieder wie am ersten Tag. Wie damals, als ich sie gefunden hatte. Sie hatte reglos im Wasser getrieben, bleiches Gesicht, so fahle Lippen. Ich hatte geschrien, die Nachbarn dadurch geweckt, die sofort zu Hilfe geeilt waren. All die Bilder spielten sich wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab und ich bemerkte gar nicht, dass Lucrezia auch noch hier war. Ich fühlte nun nicht mal mehr den Hass, der ihr vorhin noch gegolten hatte, ich hatte ihre Anwesenheit komplett ausgeblendet. Alles, was in meinem Kopf präsent war, waren diese Erinnerungen. Und endlich, ich schaffte es endlich, zu weinen. Es fühlte sich so befreiend an, wie sich der Druck von meiner Brust zunehmend abbaute und wie er durch meine Schluchzer seinen Weg nach draußen fand. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich so hier gesessen hatte, doch nun kippte ich zurück und lehnte mich gegen das weiße Blech des Fahrzeugs hinter mir. „Lexi, es tut mir so leid... Ich wusste nicht, dass du wirklich so extrem auf Wasser reagierst, sonst hätte ich dich niemals hierhergebracht! Es ist nur, ich habe mit meiner besten Freundin gesprochen, sie ist Psychotherapeutin und sie hat gemeint, das sei deine einzige Chance, das Trauma hinter dir zu lassen. Ich sollte dich an einen See bringen und mich gemeinsam mit dir Schritt für Schritt dem Wasser nähern. Sie sagte, das würde helfen und ach, ich weiß ja auch nicht, ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl bei der Sache. Hätte ich doch nur darauf gehört! Es tut mir so unglaublich leid!" Lucrezia weinte nun auch und dieser seltene Anblick war es vermutlich, der mich wieder in die Realität zurückholte. Doch ich hatte den Großteil ihrer Worte überhört, nur dieser eine Satzfetzen blieb mir im Gedächtnis und er hallte noch einige weitere Male in meinem Kopf nach. Ich wusste nicht, dass du wirklich so extrem auf Wasser reagierst... Ich schloss meine Augen und atmete tief durch. Immer noch zitternd wandte ich mich Lucrezia zu: „Dass ich so stark auf Wasser reagiere?! Lucrezia, du weißt aber schon, wo wir hier sind, oder?!" Die Frau mir gegenüber schien jedoch nur Bahnhof zu verstehen. „Jetzt hör doch mit diesen dummen Spielchen auf!", fluchte ich weiter, doch noch immer blickte ich in ein Gesicht voller Verwirrung. Es machte mich zornig, dass sie offenbar auch noch die Dreistigkeit besaß, sich dummzustellen. „Lexi, ich habe wirklich keine Ahnung, worauf du hinauswillst! Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht wusste, dass du wirklich solche Angst vor Wasser hast! Es ist wohl besser, wir lassen das und fahren heim..." Dachte sie wirklich, ich würde mich jetzt einfach so wieder in ihr Auto setzen? Nach alldem, was sie mir gerade angetan hatte?! „Ich kann es einfach nicht glauben! Du fährst mich an den Ort, an dem meine Schwester sich umgebracht hat und tust nun so, als wüsstest du von nichts? Weißt du eigentlich, was für ein abgefuckter Mensch du bist?!", ich wurde lauter, doch bevor ich noch etwas hinzufügen konnte, lenkte mich ihr Blick ab. Ihre Gesichtszüge entgleisten ihr und ihre Haut verlor an Farbe. „Was denn, bereust du es nun plötzlich doch oder wie?! Vielleicht hättest du vorher nachdenken sollen!" Das war der letzte Satz, den ich ihr an den Kopf warf, bevor mir... meine Freundin schluchzend in die Arme fiel? Was sollte das denn nun? Ich verstand die Welt nicht mehr und dementsprechend distanziert ließ ich diesen plötzlichen Körperkontakt auch über mich ergehen. „Es tut mir ja so leid, Lexi! Verdammt, das wusste ich nicht! Du hast mir die genauen Umstände ja nie erzählt! Hätte ich gewusst, dass das der Ort ist, wo dein Leben aus den Fugen geraten ist, ich hätte mich nie, niemals dafür entschieden, dich herzufahren! Ich kann mich gar nicht oft genug entschuldigen! Für mich war das einfach nur irgendein See! Meine Eltern haben hier eine Hütte, weißt du? Ich dachte, das hier wäre ein guter Ort, um an deinen Ängsten zu arbeiten, weit weg vom bedrückenden Alltag, aber ich habe es nur schlimmer gemacht... Du wirst mir das wohl nie verzeihen können... Ich habe alles kaputtgemacht..." Ich spürte ihre Tränen an meiner Schulter. Sie durchnässten mein T-Shirt und das Zittern ihres Körpers, der sich an meinen presste, wirkte so surreal. Lucrezia Villani weinte? So richtig? Nach und nach setzten sich ihre Worte dann in meinem Gehirn zu einer Sinneinheit zusammen und ich erkannte, dass sie offenbar wirklich keine bösen Absichten gehabt hatte. Sie hatte mir helfen wollen... Und auch wenn ich ihr ihre Aktion, mich überhaupt zu Wasser zu bringen, noch immer übelnahm, irgendwo verstand ich sie. Ich würde auch nicht länger mit einem psychisch labilen Wrack zusammenleben wollen, ohne jegliche Aussicht auf Besserung. Sie konnte außerdem nichts dafür, dass ich all die Male abgeblockt hatte, an denen sie den schlimmsten Tag meines Lebens angesprochen hatte. Naja, so oft war das nun auch nicht vorgekommen, doch wenn wir während unserer kurzen Beziehung wirklich mal über solche Dinge geredet hatten, hatte ich es vermieden, mehr zu erzählen, hauptsächlich aus Angst davor, ihr zur Last zu fallen. Das hatte ich ja super hinbekommen... „Also wusstest du echt nicht, dass dieser See hier jener ist, an dem alles geschah?", ich musste nochmal nachfragen. Ich musste einfach sichergehen. Lucy hob ihren Kopf und sah mir in die Augen während sie sprach: „Nein, hätte ich das gewusst... Ich hätte dir das nie angetan, ich bin doch kein Unmensch! Es tut mir so unglaublich leid, Lexi!" Ich nickte bloß. Wo kam denn plötzlich dieses Gefühl von Wärme her? Ich fühlte mich umgehend besser, was wohl an der Aufrichtigkeit ihrer Worte liegen musste. „Schon okay, ich vergebe dir... Du konntest das ja gar nicht wissen, wenn ich nie reden wollte, als du es mir angeboten hast... Mir tut es leid, dass ich dir gegenüber so verschlossen war, was das angeht..." Lucrezia schien nicht glauben zu können, was sie da hörte. „Ich... Lexi... Es ist ja klar, dass du darüber nicht reden willst!", gab sie verwundert zurück. Ich hingegen meinte aber nur: „Nein, ist es nicht. Du bist meine Freundin. Wir sollten miteinander über alles reden... Dann passiert so etwas auch nicht."

Eine Weile schwiegen wir. Ich blickte immer noch starr zu Boden, voller Angst, dass wenn ich aufschauen würde, die nächste Panikattacke meinen Körper lahmlegen könnte. Der Blick Richtung Boden gab mir eine gewisse Sicherheit. Es war wie bei Leuten, die unter Höhenangst litten, nur dass diese eben genau nicht runterschauen durften. Sie richteten ihren Blick dann gen Himmel und alles war gut. Doch mein Trauma war wohl kaum mit einer simplen Höhenangst zu vergleichen. Das war viel tiefergehend. Innerlich lachte ich mich aus. „Lass uns heimfahren. Also... wenn du mir noch vertraust und in dieses Auto steigen willst...", schlug Lucy nun zögerlich vor und fügte sofort hinzu: „Ich verspreche dir auch, dass wir nie wieder hierherkommen werden." Mir hingegen – so unberechenbar, wie alles in meinem Kopf eben war – kam plötzlich der absurde Gedanke, dass dieser Zufall der Location ja ein Zeichen des Universums sein könnte. Wirklich meine Chance, abzuschließen. Was hatte diese Therapeutin da gesagt? Ich müsste mit meiner Angst konfrontiert werden, um heilen zu können? Auf einmal flutete mich ein ungewohnt starkes Gefühl der Zuversicht, das ich niemals erwartet hätte. Und so fasste ich einen Entschluss. „Lucy?", fragte ich in die erdrückende Stille. Ich spürte, wie sie mich ansah und fragte dann versöhnlich, aber bestimmt: „Ich denke, ich will doch da runter. Bist du immer noch dazu bereit, das mit mir zusammen durchzustehen?" Und meine Freundin? Die lächelte, erhob sich von ihrem Platz neben mir, streckte mir wie bei unserer allerersten Begegnung ihre Hand entgegen und flüsterte: „Ich werde nicht von deiner Seite weichen. Keine Sekunde."

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt