#17 Abstand

2.3K 145 6
                                    

POV Lexi Falkner

Es waren nun beinahe zwei Wochen vergangen, seit meine Lehrerin mir meine Verletzung verarztet hatte und meine Hand tat glücklicherweise nicht mehr weh. Es war beinahe alles verheilt, doch was blieb, war das schlechte Gewissen. Ich hatte einen Wutausbruch gehabt. Ich hatte mich selbst verletzt. Und ich wusste, dass es nicht bei diesem einen Mal bleiben würde. Mir war bewusst, dass ich ohne eine erneute Therapie oder zumindest Unterstützung von außen, wieder in diese Endlosschleife kommen würde, aus der ich alleine nicht herausfinden könnte. Mir war klar, ich musste früher oder später mit jemandem darüber reden, doch meine Mutter schied da aus. Die war seit ihrer Rückkehr irgendwie komisch gewesen. Wir hatten öfter gestritten, als normal miteinander geredet und ich war immer öfter in meine Hütte verschwunden, weil ich mich daheim momentan nicht wohlfühlte. Ich hatte eigentlich geplant, sie auf den Abschiedsbrief anzusprechen, doch ich hatte es nicht übers Herz gebracht. Ich konnte nicht darüber reden, da mir dabei sofort wieder die Tränen kamen. Jedes einzelne Mal. Wenn ich nur daran dachte, wurden meine Augen glasig und ich musste mich echt zusammenreißen, nicht einfach in der Öffentlichkeit loszuheulen. Mir reichte dieser eine Gefühlsausbruch vor den Augen meiner Lehrerin vollkommen. Es war nun endlich wieder mal genug mit Schwäche. Das war nicht ich und das wollte ich auch nicht sein, also wischte ich mir schnell die Tränen weg und stieg in den Bus, der mich heimbringen sollte.

Auf der Fahrt hörte ich Musik, das lenkte mich eine Zeit lang ab, doch dann kreisten meine Gedanken schon wieder um die letzte Zeit. Vor allem um die Zeit mit meiner Lehrerin, denn Frau Professor Villani hatte mir seit dem Zwischenfall keine Beleidigungen oder dummen Kommentare mehr an den Kopf geworfen. Sie war zwar auch nicht besonders nett gewesen, doch sie hatte sich wie eine normale Lehrerin verhalten, die respektiert wurde und dafür Respekt für andere überhatte. Sofern ihr dieser eben auch entgegengebracht wurde. Doch das tat ich. Ich respektierte sie und ich hielt mich mit meinen dummen Sprüchen zurück. Selbst in den anderen Gegenständen war ich ruhiger geworden und in Mathematik hatte ich zur Abwechslung sogar begonnen, mitzuarbeiten. Ich wusste selbst nicht, wo meine komplette Typveränderung herkam, ich wusste nur, dass ich mir dumme Kommentare nicht mehr leisten konnte, denn würde jemand auf mir herumhacken, würde ich in Tränen ausbrechen. Ich war verdammt verletzlich und versuchte vermutlich durch Klappe halten andere davon abzuhalten, mich anzuschreien. Wer wollte schon in der Schule losheulen?

„Ich bin zu Hause!", rief ich, doch meine Mutter antwortete nicht wie sonst mit einem kühlen „Hallo", sondern trat aus der Küche und meinte: „Wir müssen reden. So geht das nicht weiter." Ich wunderte mich ein wenig, denn so war sie sonst normal nicht, doch ich wusch mir meine Hände und setzte mich dann zu ihr an den Tisch. Die Stimmung war irgendwie bedrückt. Ernst. Eine Weile sagte keine etwas, dann sprach meine Mutter endlich und durchbrach somit die angespannte Stille: „Ich muss dir etwas sagen..." Ihre Stimme war fast schon ängstlich und ich fragte mich, ob sie mir jetzt von dem Brief erzählen würde. Wie sollte ich dann reagieren? Wäre ich sauer? Ich war sauer. Aber wollte ich ihr das wirklich so direkt zeigen? Sie versuchte immerhin, mir das mitzuteilen und vielleicht hatte sie ja einen guten Grund dazu gehabt, mich so lange in Ungewissheit zu lassen? Aber ich hätte mir all diese Gedanken sparen können, denn was jetzt kam, hätte ich in hundert Jahren nicht erwartet: „Ich habe jemanden kennengelernt."

„Deine Mutter hat einen Freund?!", entfuhr es Tina entgeistert. Ich hatte nach dieser Information zornig das Haus verlassen und mich auf den Weg zu meiner besten Freundin gemacht. Ich musste darüber reden, bevor ich es in mich hineinfraß oder wieder etwas einschlug. Ich konnte es einfach nicht glauben. „Ja verdammt! Sie meinte, sie hat ihn in Island kennengelernt, er ist aber auch Österreicher und war wegen eines anderen Projekts drüben. Dann habe ich auf Durchzug geschaltet, denn ich wollte mir das einfach nicht mehr anhören. Wieso tut sie mir das an?! Sie erwartet auch noch, dass ich mich für sie freue!", stieß ich wütend hervor. „Ach Gott... Habt ihr je über diesen Fall geredet, seit dein Vater weg ist?", wollte Tina nun wissen und ich nickte. „Ja, sie meinte, sie würde nie wieder irgendeinen Typen anschleppen. Er müsse sich erst behaupten, denn bei Papa hätte sie ja einen kompletten Fehlgriff getätigt... Es wäre mir ja auch egal, wenn sie irgendwann wieder einen Mann mitbringt, aber sie hat so getan, als würde sie ihn gleich heiraten wollen, weil er ja ach so perfekt ist. Und was mich am meisten stört: Sie meinte, ich würde ihr ihr Glück nicht gönnen und ich würde mich unfair verhalten. Doch sie kann nicht verlangen, dass ich Freudensprünge mache, wenn sie mir verkündet, dass er vielleicht sogar bald bei uns einziehen wird!" Meine beste Freundin schüttelte nur zustimmend den Kopf und ich war gerade ausgesprochen froh, dass ich nicht irgendwo allein war, denn die Wut in mir wuchs und wuchs und ich konnte sie einfach nicht stoppen. „Wenn du magst, kannst du eine Weile hierbleiben... Ich meine, dann sage ich Tobi, dass ich halt mal keine Zeit für ihn habe", schlug Tina vor, doch ich schüttelte entschlossen den Kopf. Sie hatte schon oft genug meinetwegen zurückgesteckt, das hier würde ich ganz allein überstehen. „Danke, echt nett, aber ist schon in Ordnung. Es reicht mir schon, wenn du mir einfach gelegentlich zuhörst und ich mich bei dir auskotzen kann. Oft brauche ich diese Art von Psychohygiene einfach." Sie lächelte, zog mich in ihre Arme und versicherte mir dann schmunzelnd: „Jederzeit."

Am Abend entschied ich mich dann dazu, wieder nach Hause zu fahren. Ich konnte nicht ewig wegbleiben, denn ich hatte Mama nicht mal Bescheid gegeben, wohin ich verschwunden war und sie machte sich bestimmt Sorgen. Außerdem vermutete ich, dass sie ein schlechtes Gewissen haben würde, doch da täuschte ich mich, denn sobald ich das Haus betreten hatte, ging der Streit weiter. Sie machte mir wieder Vorwürfe, die nun nicht mehr um ihr Glück allein gingen, dem ich im Wege stünde, sondern in alle Richtungen. Sie warf mir an den Kopf, dass ich mit meiner „arroganten, vorlauten Art" froh sein sollte, dass ich überhaupt Tina als Freundin hatte und dass ich sehen würde, wo ich landete, wenn sie mir nichts mehr bezahlen würde. Ich war beleidigt und auch ein wenig verletzt, was ich ihr natürlich nicht zeigen wollte, doch spätestens bei ihrer nächsten Bemerkung wusste ich, wenn sie noch weiterredete, würde ich ihr eine klatschen: „Nur weil du es nicht schaffst, mir endlich einen Schwiegersohn heimzubringen, heißt das nicht, dass ich nicht glücklich werden darf!" Ich schluckte. Dann haderte ich mit mir, was ich darauf antworten sollte. Nach einigen Momenten, in denen ich sie perplex und mit offenem Mund angestarrt hatte, fragte ich sie nur mit bedrohlicher Stimme: „Das traust du dich wirklich noch zu sagen, nach allem was passiert ist?" Ich wusste, dass sie meine Andeutung auf Julies Homosexualität verstanden hatte, denn ihre Augen waren gefährlich aufgeblitzt. Dann wurde sie still, doch ich wollte mit ihr über gar nichts mehr reden und so stürmte ich in mein Zimmer, warf ein paar Kleidungsstücke und anderes Zeug in meinen Rucksack, schnappte mir noch meine Schulsachen und verließ danach erneut wütend das Haus.

Die Tür knarzte, als ich sie öffnete. Es war dieses vertraute Knarzen und irgendwie beruhigte mich das. Ich legte meinen Rucksack ab und schmiss mich dann sofort auf das alte Sofa. Ich hatte mich dazu entschieden, eine Zeit lang hier in der Hütte zu bleiben, bis sich meine Mutter wieder beruhigt hätte. So hätte ich meine Ruhe. Doch zur Schule würde ich trotzdem gehen, denn es war mein Maturajahr und ich wollte auf keinen Fall länger für meinen Abschluss brauchen als nötig. Ich hatte Tina vorhin noch geschrieben, dass sie mich nicht daheim finden würde, sollte sie vorbeikommen, sondern dass ich ein paar Tage Abstand brauchte und darum woanders schlief. Sie hatte wissen wollen, wo, doch ich hatte sie gebeten, das einfach zu akzeptieren und versprochen, ihr diesen Ort irgendwann mal zu zeigen. Nachdem ich ihr noch versichert hatte, dass mir da nichts passieren würde, hatte sie dann endlich aufgegeben. Es tat mir irgendwie leid, dass ich ihr das alles verschwieg, doch ich kannte Tina. Sie würde vorbeikommen und so sehr ich ihre Anwesenheit auch genoss, momentan hatte ich Zeit alleine nötig, um mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ich brauchte dringend Zeit für mich.

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt