#74 Böse Träume und Verlustangst

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POV Lucrezia Villani

Ich schlug sofort die Augen auf. Wo war ich? Ach ja, ich wohnte ja jetzt in Graz. Mit meiner Freundin zusammen. Mit der Liebe meines Lebens zusammen. Es könnte eigentlich nicht mehr besser werden, doch nun bemerkte ich auch den Grund für mein Aufwachen: Lexi wand sich im Bett und schlug wild um sich. Meine Augen hatten sich zwar bereits an die Dunkelheit gewöhnt, ich drehte aber trotzdem das Leselicht auf, um die Situation besser zu überblicken. „Bitte nicht! Ich kann nicht dich auch noch verlieren! Wieso verlässt mich jeder!" Meine Freundin schrie diese Worte beinahe und erst jetzt kapierte mein müdes Ich, dass das wieder einer ihrer Albträume sein musste. Sofort saß ich aufrecht im Bett und versuchte, sie durch sanftes Rütteln und ruhige Worte wachzubekommen. „Hey, Tesoro... Wach auf, du träumst. Ich bin ja bei dir, dir passiert nichts." „Warum tust du mir das an, verdammt! Du weißt genau, was mit Julie...", den Rest murmelte sie in ihr Kissen, sodass ich nichts mehr verstand. Ich wusste nicht, um wen es in ihrem Traum ging, doch offenbar war gerade jemand dabei, sie auf irgendeine Art und Weise zu verlassen und es tat mir im Herzen weh, sie so leiden zu sehen. Erst jetzt erkannte ich, dass ihr Gesicht tränenüberströmt war. Ich hatte schon einige ihrer nächtlichen Ängste mitbekommen, doch wirklich geweint hatte sie noch nie dabei. Sie sah verdammt mitgenommen aus und mir war bewusst, dass ich sie nur von ihren Dämonen befreien könnte, wenn ich sie wachbekäme. So versuchte ich mein Glück mit ein wenig mehr Bestimmtheit in der Stimme und es schien endlich zu wirken. Sie schoss hoch und atmete schwer ein und aus. „Lexi, ich bin hier, du hast geträumt. Niemand verlässt dich, es ist alles gut", meinte ich sogleich, um ihr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Außerdem legte ich meine Hand vorsichtig an ihre Schulter. Ich wollte ihr nicht zu nahtreten, was absolut lächerlich war, denn ich war nicht mehr ihre Lehrerin und wir waren in einer Beziehung. Doch mein Instinkt schien richtigzuliegen, denn sie schlug sofort meine Hand weg und blickte mich aus großen Augen an. Diese Angst, die sich in diesen spiegelte, schockierte mich total. Hatte sie etwa Angst vor mir? Vor ihrer eigenen Freundin? Vor der Person, die sie nicht mehr lieben könnte? Es versetzte mir einen Stich, aber ich wollte nicht aufgeben. Sie war bestimmt einfach verwirrt. „Lexi, Tesoro...", setzte ich ruhig an, doch sie steigerte sich noch mehr hinein. Sie schluchzte auf und schrie beinahe: „Wenn du mich auch verlassen willst, dann geh halt! Aber lass mir meinen verdammten Seelenfrieden!" Ich war maximal verwirrt. Träumte sie etwa noch? Oder meinte sie das gerade ernst? Dachte sie wirklich, ich würde sie jemals wieder verlassen? Niemals könnte ich mir ein Leben ohne sie vorstellen! Als sie nun aber schluchzend ihre Hände vor ihr Gesicht drückte und ihr Körper bebte, konnte ich nicht mehr länger zusehen und ich zog sie an mich. Zuerst wehrte sie sich, begann erneut um sich zu schlagen und wollte mir entkommen, doch nach und nach bröckelte ihre Fassade und dieses so wundervolle Wesen brach in sich zusammen. „Hey, alles wird gut. Es war nur ein Traum!", wiederholte ich die Worte, in der Hoffnung, das würde sie in die Gegenwart zurückholen. Ich verlautbarte ihr sogar die Uhrzeit, weil ich mal von Clara gehört hatte, das würde bei Realitätsverlust oft helfen. Und es schien wirklich zu wirken! Lexi wurde nach und nach ruhiger. Sie schluchzte nur noch ganz leise vor sich hin, während ich immer wieder beruhigend über ihre Haare strich. „Ich liebe dich und ich werde nicht mehr von deiner Seite weichen...", versicherte ich ihr.

Nach einer Weile, in der wir einfach so dagesessen hatten, wagte meine Freundin einen Blick zu mir. Es schockierte mich, wie viel Schmerz sich immer noch in ihren Augen befand. „Möchtest du... vielleicht darüber reden? Also über den Traum und alles?", fragte ich vorsichtig, jedes Wort bewusst gewählt, darauf bedacht, sie zu nichts zu drängen oder irgendwie zu triggern. Ich erhielt lange keine Antwort, doch gerade als ich überlegte, ob ich sie erneut fragen sollte, löste sie sich ein wenig von mir und sprach mit gebrochener Stimme: „Da war wieder meine Schwester kurz vor ihrem Tod... Und dann warst da plötzlich du", sie schwieg einen Moment, schien nach den passenden Worten zu suchen, „und du hast gemeint, ich sei... eine Plage, eine Last und wenn man mich in seinem Leben hat, muss man sich ja einen Ausweg suchen..." Nun heulte sie wieder und ich sah ihr an, dass sie sich absolut dumm vorkam. „Was ist dann passiert?", hakte ich weiter nach. Ich musste wissen, was ihr Gehirn da alles verarbeitete. Meiner Meinung nach handelte es sich hier nämlich eindeutig um eine posttraumatische Belastungsstörung, die noch lange nicht bewältigt war. „Dann... dann...", sie schluchzte laut auf, „dann bist du auf den Steg gerannt und ebenfalls ins Wasser gesprungen. Du hast dabei gerufen, dass man ja den Wunsch nach dem Tod entwickelt, wenn man mit mir zusammen ist!" Ich war geschockt. Das hatte sie geträumt? Sie hatte geträumt, dass ich mich umgebracht hatte, damit ich ihr entkommen könnte? Dieser Gedanke tat mir tief in mir drinnen unglaublich weh. „Lexi, niemals würde ich auch nur daran denken! Du weißt, dass du die Liebe meines Lebens bist und dass ich dich niemals verlassen würde! Du weißt, dass ich ohne dich nicht mehr leben kann, oder? Wenn nicht, dann weißt du es zumindest jetzt. Ich mache mir Sorgen um dich... Woher kommen diese quälenden Gedanken nur?", die letzte Frage hatte ich eher an mich selbst gerichtet, doch Lexi beantwortete sie mir trotzdem. „Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich will sie nicht mehr haben! Ich will endlich erlöst werden von alldem! Wie oft soll ich noch meine tote Schwester in diesem See treiben sehen? Wie oft soll sich dieser Schauplatz noch in meinen Schlaf drängen? Ich kann nicht mal mehr in die Nähe eines solchen Gewässers, ohne Panik zu schieben! Ich will doch nur ein normales Leben führen, ist das zu viel verlangt?!" Ich glaubte ihr all das sofort. Niemand sollte so leiden müssen, doch ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr helfen sollte. Es schmerzte mich, so machtlos zu sein. Fürs Erste entschied ich mich also dazu, meiner Freundin noch ein wenig gut zuzureden, damit sie wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf bekäme. Das funktionierte auch, denn langsam aber sicher driftete sie wieder in diese andere Welt, die wohl diesmal ganz ruhig zu sein schien. Ich gab ihr einen letzten Kuss auf die Stirn, bevor dann auch ich mich wieder eng an sie gekuschelt ins Land der Träume verabschiedete.

Seit einiger Zeit lag ich nun schon wieder wach. Draußen wurde es bereits hell und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es knapp nach fünf war. Mein Kopf dröhnte vom vielen Nachdenken, denn ich überlegte schon eine ganze Weile, wie ich meine Freundin dabei unterstützen könnte, ihr Trauma endlich ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Da musste es doch eine Lösung geben, oder? Ich war ratlos. Plötzlich kam mir jedoch eine Idee. Sollte ich das wirklich tun? Hinterging ich Lexi damit irgendwie? Ich wusste es nicht, doch ich konnte kaum dabei zusehen, wie sie von ihren Ängsten zerfressen wurde und so schälte ich mich vorsichtig aus meiner Decke und verließ entschlossen das Bett. Ich schnappte mir so leise wie möglich mein Handy von meinem Nachttisch und tapste mit meinen bloßen Füßen zur Schlafzimmertür. In der Küche angekommen, lehnte ich mich erschöpft gegen die Arbeitsplatte und dachte nochmal über meinen Plan nach. „Ja, es ist das Richtige. Du tust das Richtige", ratterte ich mantraartig in Gedanken herunter, bevor ich den Kontakt auswählte.

Es dauerte nicht lange, da knarzte es auch schon am anderen Ende der Leitung und ich wurde verwundert begrüßt: „Lucy! Wieso rufst du denn in aller Herrgottsfrühe an? Alles in Ordnung bei dir?" Ich hatte bereits geahnt, dass meine beste Freundin besorgt reagieren würde, denn ich meldete mich nie um diese Uhrzeit bei ihr, auch wenn ich wusste, dass sie da schon immer wach war. „Clara, Gott sei Dank", gab ich zurück und dann fuhr ich auch schon fort, „ich brauche unbedingt deinen Rat. Aber erstmal vorweg: Lexi und ich haben endlich wieder zueinander gefunden. Du hattest recht, nach Graz zu ziehen war die absolut richtige Entscheidung! Sorry, dass ich mich nicht früher gemeldet habe, aber bei mir war einfach so viel los in den letzten Wochen... Aber das erzähle ich dir mal bei einem Kaffee, vielleicht willst du Lexi ja mal außerhalb deiner Praxis kennenlernen?" Clara antwortete: „Ich habe mich schon gefragt, wann du sie mir vorstellst. Ich dachte schon fast, dass ihr eure Zeit wieder gemeinsam verbringt. Ich freu mich ja so für dich! Aber wo brauchst du denn nun meine Hilfe, wenn eh alles so gut läuft?" Jetzt gab es kein Zurück mehr. „Ich weiß, du stehst unter Schweigepflicht und das ist ja auch okay, aber du musst mir helfen. Lexi hatte heute Nacht so einen schlimmen Albtraum, so habe ich sie noch nie erlebt und ich habe schon viele solcher Momente mit ihr durchgestanden. Diesmal hat sie aber nicht nur ihre Schwester darin gesehen, sondern auch mich und...", ich erzählte und erzählte bis mein Mund trocken war. Immer noch im Flüsterton hängte ich nach dieser ausschweifenden Erklärung an: „Und jetzt wollte ich dich bitten, mir zu sagen, was ich für sie tun kann. Sie zerbricht daran!" Es fühlte sich ungewohnt gut an, Clara eingeweiht zu haben, auch wenn ich immer noch so meine Zweifel hatte, ob Lexi das gewollt hätte. Ich fühlte mich, als würde ich ihr Vertrauen missbrauchen, obwohl ich ihr ja nur helfen wollte. Doch Clara baute mich mit ihren Worten auf und meinte, sie sei froh, dass ich ihr das geschildert hätte. Dann riet sie mir zu etwas, das ich ziemlich extrem fand und von dem ich mir nicht sicher war, ob es eine gute Idee wäre, das wirklich durchzuziehen. „Es ist mir klar, dass das hart für sie sein wird, aber das ist wohl der einzige Weg und mit dir an ihrer Seite ist sie bestimmt bereit. Ich hatte das schon lange im Sinn, habe es ihr aber noch nie ans Herz gelegt, weil sie das alleine nicht überstehen würde. Doch jetzt ist sie nicht mehr alleine. Sie hat dich. Und wenn du in all diesen schwierigen Momenten für sie da bist und ihr zeigst, dass sie nicht auf sich gestellt ist, kann das ihre Chance sein, dieses Trauma endlich vollkommen zu überwinden." Diese Worte reichten aus, um mein zweifelndes Selbst im Endeffekt wirklich von Claras Idee zu überzeugen. Meine beste Freundin war hier immerhin die Expertin und wenn sie meinte, damit könnte meiner Freundin geholfen werden, so würde ich das durchziehen. Trotzdem packte mich die Angst und meine Hände zitterten. Hoffentlich würde unsere Beziehung das aushalten...


- A/N -

Na, was denkt ihr, hat Lucy vor? Lasst gerne eure Vermutungen oder sonstige Anmerkungen da! :)

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