#54 Ich muss dir etwas sagen

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POV Lexi Falkner

„Und dann hast du gemeint, du wärst alt genug, um das selbst zu erledigen", lachte meine Mutter und ich stimmte in ihr Lachen mit ein. Sie hatte mir gerade eine Geschichte aus meiner Kindheit erzählt, wo ich zu ihr gesagt hatte, ich würde mir Geld leihen wollen, um einkaufen zu gehen und dann noch ein Paket zur Post zu bringen. Ich war damals drei gewesen und natürlich war ich nicht alt genug dazu gewesen, doch ich hatte das meinen Eltern mit Überzeugung erklärt. „Naja, wer weiß, ob Kinder das vielleicht nicht auch in diesem Alter schon können? Vielleicht traut man ihnen einfach zu wenig zu?", meinte ich nun kichernd und auch meine Mama musste wieder lachen. „Das werden wir wohl nie erfahren. Mich hätte aber interessiert, wie du das alles wirklich angestellt hättest! Wäre sicher lustig geworden. Auch für die Mitarbeiter im Supermarkt und in der Postfiliale."

Es war bereits später Nachmittag. Wir hatten jetzt einfach drei Stunden hier gesessen und geredet und es tat so verdammt gut. Ich fühlte mich wohler, auch wenn meine Gedanken zwischenzeitlich immer wieder zu Lucrezia abschweiften, es fühlte sich besser an, als in Tinas Zimmer zu hocken und Löcher in die Luft zu starren. „Möchtest du auch einen Kaffee?", fragte meine Mutter mich gerade und ich bejahte dankbar. Nur meine Gedanken waren nun ganz woanders. Wir hatten noch viel über Julie und auch ihren Tod gesprochen und ich würdigte das sehr, endlich mal offen mit Mama darüber zu reden, denn nur so konnten unbeantwortete Fragen gestellt und endlich aus meinem Kopf verbannt werden. Über Julies Homosexualität hatten wir aber beide kein Wort verloren und ich fragte mich, ob meine Mama das nicht ansprach, weil sie sich schämte, das nie bemerkt zu haben, oder ob sie es nicht tolerierte, eine Tochter zu haben, die so fühlte. Ich wurde unruhig und vor allem unsicherer, je länger ich darüber nachdachte, doch irgendwo in mir verspürte ich das enorme Bedürfnis, mich ihr endlich zu öffnen. Endlich ich selbst sein zu dürfen und mich nicht mehr verstecken zu müssen. Denn mein Leben war nun mal eine Lüge. Ich lebte eine Lüge. Und wenn es Eines gab, was ich schon sehr lange ändern wollte, dann war es das hier. Ich musste es meiner Mutter endlich anvertrauen und obwohl ich wusste, dass mir meine große Schwester mit ihrem Brief zumindest noch ein wenig den Weg geebnet hatte, hatte ich unglaubliche Angst davor, wie meine Mama wirklich reagieren würde. Doch sie hatte mir vorhin erklärt, sie könnte nicht noch ihre zweite Tochter verlieren, sie würde das nicht verkraften, also würde sie das schon hinnehmen, oder? Sie hatte außerdem gemeint, dass es sich genau so angefühlt hätte, als ich gegangen war und dass ihre Welt da zusammengebrochen wäre. Wäre Gerald nicht für sie da gewesen, hätte sie das alles nicht verkraftet und dafür war ich ihm irgendwie auch dankbar. Er wurde mir durch Mamas Erzählungen immer sympathischer und ich merkte, wie sie ein fröhlicherer Mensch geworden war, seit sie ihn kannte. So ein Einschnitt und eine Pause voneinander, wie es bei uns der Fall gewesen war, eröffnete mir und auch ihr wohl eine ganz neue Perspektive auf die Dinge und ich würde lügen, würde ich nun behaupten, das hätte uns nicht beiden gutgetan.

Meine Mutter kam nun wieder aus der Küche und stellte mir meinen Kaffee hin, den ich dankend annahm. Ich gönnte mir gleich einen kräftigen Schluck, um meiner trockenen Kehle entgegenzuwirken, die durch all diese Gedanken und Hirngespinste soeben entstanden war. Dann wurde ich wieder ganz still. Sollte ich mich echt bei meiner Mutter outen? Ich meine, sie war diejenige, die die besten Ratschläge geben konnte und vielleicht würde mir das auch in der Situation mit Lucrezia weiterhelfen... Ich würde ihr natürlich niemals verraten, dass ich mich in meine Lehrerin verliebt hatte, doch dass es da einen Menschen gab, der mir aus unerfindlichen Gründen ausgesprochen wichtig war und dem ich nachtrauerte, weil er mich abserviert hatte, ohne mir überhaupt den Grund dafür zu nennen, das würde ich mir schon gerne von der Seele reden. Und meine Mutter war für solche Themen eigentlich immer offen und gerne bereit, zu helfen. Nur wenn es sich bei diesem Menschen um eine Frau handelte... Wäre das für sie in Ordnung? Eine kaum aushaltbare Angst machte sich in mir breit. Sie kroch in jeden Winkel meines Körpers und ich wusste nicht, wie ich sie da wieder rausbekommen sollte. „Es ist deine Mutter, der du hier gegenübersitzt, verdammt!", ermahnte mich die Stimme in meinem Kopf. Trotzdem fühlte ich mich unwohl bei der Sache. Ich würde sie doch bloß enttäuschen. Vielleicht wollte sie wirklich keine lesbische Tochter? Julies Angst hatte doch irgendwie begründet sein müssen, oder? Ich wusste es nicht. Wie so oft, wusste ich rein gar nichts. Weder was ich machen sollte, noch was ich überhaupt machen wollte. Kein Plan... Irgendwann riss mich die Stimme meiner Mama jedoch aus meinen Gedanken, denn eine Mutter merkte nun mal, wenn ihrem Kind etwas auf dem Herzen lag und so fragte sie: „Lexi... Ist irgendwas? Möchtest du noch über irgendetwas reden?" Ich begann, stark zu zittern, woraufhin ich meine Hände unter dem Tisch versteckte. Sie mussten mich nicht verraten, denn es fühlte sich falsch an, vor seiner eigenen Mutter Angst zu haben. Und trotzdem war es da, dieses unerwünschte Gefühl. Mein Herz begann zu rasen. Ich schluckte einmal schwer, bevor ich ansetzte: „Mama... Ich..." Sofort schloss ich meine Augen und atmete tief durch. Wenn ich den folgenden Satz laut aussprechen würde, könnte ich das nicht mehr rückgängig machen. Nie mehr. Ich würde mich dann erklären müssen. Doch ich wusste, dass ich das tun wollte. So lange schon. Ich hatte es mir schon so oft vorgenommen und den richtigen Zeitpunkt abgewartet. Den gab es jedoch nicht. Man musste sich einfach einen Moment nehmen und ihn perfekt machen, ganz so, wie es einem die vielen schwülstigen Social-Media-Sprüche immer nahelegten. Und so fuhr ich mit zittriger Stimme fort: „Ich muss dir etwas sagen, das mir schon lange am Herzen liegt... Ich... Es... Es ist mir wichtig, dass du das weißt und vor allem, dass du es von mir erfährst, bevor das irgendwie anders passiert, also..." Ich stotterte unbeholfen vor mich hin. Plötzlich fehlten mir die Worte. Die Worte, die ich abends vor dem Einschlafen schon so oft geprobt hatte. Ich konnte sie einfach nicht aussprechen, doch meine Mutter streckte mir über den Tisch hinweg ihre Hand hin und meinte: „Du musst keine Angst haben, mir etwas zu sagen, Lexi. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Ich bin deine Mutter, wie soll ich schon reagieren?" Es war, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ob sie ahnte, was jetzt käme? Ich wusste es nicht, doch was ich wusste war, dass ich aus dieser Situation einfach nur noch raus wollte und so machte ich es kurz und schmerzlos: „Ich bin lesbisch." Ich wagte es nicht, meine Mutter anzusehen. Hätte das wohl auch nicht geschafft, denn sobald ich es ausgesprochen hatte, flossen die Tränen nur so aus meinen Augen. Aber ich war nicht traurig. Ich war einfach so unglaublich erleichtert. Und egal wie meine Mama nun reagieren würde, es war raus. Ich war frei. Und das könnte mir niemand auf dieser Welt mehr nehmen.

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