#80 Epilog

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POV Lexi Falkner

Überall Menschen. Trainer. Turnerinnen, die sich aufwärmten. Kampfrichter, die die Köpfe zusammensteckten, um die letzten Feinheiten abzustimmen. Auf der Tribüne unzählig viele Zuschauer. Freunde. Familie. Turninteressierte. Fans. Niemals hätte ich mehr gedacht, dass ich wirklich irgendwann hier in dieser riesigen Halle stehen und an meinen ersten Europameisterschaften teilnehmen würde. Dass sich dieser Lebenstraum überhaupt je erfüllen würde. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich nur darauf, was meine restlichen Sinne wahrnahmen. Die verschiedensten Geräusche der Sportlerinnen in deren Einturnphase. Landungen verschiedener Sprünge auf verschiedenen Unterlagen. Lautes Stimmengewirr von Athletinnen, die sich mit deren Trainern noch absprachen. Der Geruch von Magnesium gepaart mit diesem typischen Sporthallengeruch, den ich so sehr liebte. Und plötzlich ein sanftes Tippen auf meiner Schulter, das mich aus dieser wunderschönen Situation riss und mich herumschnellen ließ. Vor mir stand meine Verlobte und strahlte mich an. „Hey Tesoro, tutto bene? Ich wollte dir nochmal ganz viel Glück wünschen. Du kannst das! Schon allein, dass du heute hier stehst, ist ein wahnsinniger Erfolg! Wir sitzen übrigens alle hier oben auf der Tribüne", sie deutete auf die rechte Seite der Halle, „deine Mama, Gerald und Clara sind schon da, meine Eltern, Tina und Tobi kommen gleich. Ich soll dir von ihnen auch nochmal viel Glück wünschen und wollte dir noch was geben." Lucrezia zog ein Haargummi aus ihrer Jackentasche und reichte es mir. Sofort verstand ich. „Das gehörte deiner Schwester, du kennst es bestimmt, sie trug es immerhin bei jedem Training. Deine Mutter hat es mir gegeben. Wir dachten, vielleicht könnte das, zusätzlich zu ihrem Turndress, das du ja trägst, noch als Glücksbringer dienen." Nun strahlte ich ebenfalls. Ich hatte all die Jahre über keine Trainingseinheit erlebt, in der ich nicht an Julie gedacht hatte. Es fühlte sich an, als hätte sie mich auf meiner gesamten Reise begleitet. Sie war da gewesen, wenn ich alte Elemente neu lernen hatte müssen, weil ich mich nicht mehr getraut hatte. Sie war da gewesen, wenn ich neu Gelerntes perfektioniert hatte, aber auch, wenn ich mich wie ein absoluter Anfänger gefühlt hatte und beinahe aufgegeben hätte. Auch heute war ich überzeugt davon, dass sie irgendwo da war, mich vielleicht beobachtete und mit mir mitfieberte. Ich wollte das einfach glauben, denn das war es, was mir die Kraft gegeben hatte, weiterzumachen. Nach einer Niederlage immer und immer wieder aufzustehen und von Neuem zu beginnen. Sie und Lucrezia waren es gewesen, mit denen ich mich bis zum heutigen Tag gekämpft hatte. Bis an meine persönliche Spitze. „Danke, du hast ja keine Ahnung, was mir das bedeutet." Ich zog meine Verlobte in einen Kuss und fügte dann hinzu: „Und jetzt geh zu den anderen, meine Einturnphase beginnt gleich und ich kann wirklich keine Ablenkung gebrauchen", beim letzten Teil zwinkerte ich ihr anzüglich zu, was sie mit einem lachenden Kopfschütteln erwiderte, sich jedoch anschließend auf den Weg aus der Halle machte.

Ziemlich genau fünf Jahre war es nun her, dass ich mit dieser Frau zusammengezogen war. Wir hatten ihre Wohnung in Graz gemeinsam vollkommen umgestaltet und sie zu einer absoluten Wohlfühloase gemacht. Mein Linguistikstudium würde ich bald abschließen und im Sommer darauf würde ich mit Lucy für ein Jahr in einem Van die Welt bereisen, damit auch sie ihren Traum leben konnte. Wir hatten beschlossen, zuerst meinen zu verfolgen und dann ihren zu verwirklichen. Die Hochzeit war für kommenden Juni geplant und ich konnte es kaum erwarten, dieser wunderbaren Frau das Jawort zu geben. Nie wieder wollte ich ohne sie sein. Mittlerweile war sogar schon unsere Vorgeschichte vergessen und jeder sah uns einfach nur als die zwei sich liebenden Frauen, die wir immer schon gewesen waren. Wir konnten ohne schlechtes Gewissen in meiner Heimatstadt spazieren gehen, uns küssen, unsere Hände halten – niemand dachte auch nur daran, uns irgendetwas Gemeines an den Kopf zu werfen oder schlecht über uns zu reden. Selbst meine ehemalige Direktorin und Lucys damalige Affäre schien unsere Beziehung mittlerweile gutzuheißen oder zumindest zu akzeptieren und hatte uns keine Probleme mehr gemacht, wie wir es anfangs befürchtet hatten. Lucy hatte mir wenige Wochen nach unserem Ausflug zum See auch noch ihre beste Freundin vorgestellt, wobei sich herausgestellt hatte, dass ich sie schon lange davor gekannt hatte. Wie meine Verlobte mir so lange verschweigen hatte können, dass es sich um meine Therapeutin handelte, verstand ich nicht, doch ich war ihr nicht böse gewesen, immerhin hatte ich ja auch nie nachgefragt. Clara nun als eine Art Freundin in meinem Leben zu haben, bereicherte dieses nur noch mehr, denn nach alldem, was sie für Lucrezia und mich getan hatte, konnte ich ihr nur dankbar sein. Alles war einfach perfekt und die Tatsache, dass ich heute hier in Kopenhagen an den Start gehen würde, rundete die positive Wendung, die mein Leben in den letzten Jahren genommen hatte, ab. Ich war ehrlich glücklich. Viel glücklicher, als ich es mir jemals ausgemalt hatte, werden zu können. Es war kein Geheimnis, dass der Tod meiner Schwester ein enormer Rückschlag gewesen war, doch mit Lucrezias Hilfe und der Unterstützung meiner Familie und Freunde war ich stärker aus diesem tiefen Loch, in das ich damals gefallen war, herausgekommen und hatte mein Trauma nun endlich vollständig überwunden. Es gab keine schlechten Träume mehr, keine Panikattacken oder Wutausbrüche, die ich nicht erklären konnte. Ich hatte meine Vergangenheit nun endlich endgültig hinter mir lassen können. Ich war Lexi Falkner, so schnell konnte mich nichts vernichten. Ich war stark.

„Mallory York, in preparation: Alexandra Falkner." Mein Moment war gekommen. Ich hatte heute an bereits vier Geräten gezeigt, was ich draufhatte und nun fehlte nur noch der Schwebebalken. Eine Turnerin war noch vor mir dran, die mit ihren 25 Jahren auch eher zu den Älteren zählte, aber scheinbar ebenfalls noch top in Form war. Die Nervosität stieg, doch bis jetzt hatte alles ganz gut geklappt und dann würde ich mit Sicherheit auch dieses letzte Gerät erfolgreich hinter mich bringen. Ein letzter Blick zur Tribüne verriet mir, dass Lucrezia mit Tina am Geländer ganz vorne stand und jubelnd eine Österreich-Flagge schwang. Ich schmunzelte über ihre Euphorie, länger Zeit, um mich daran zu erfreuen, dass die beiden sich so gut verstanden, hatte ich dann jedoch nicht mehr, denn ich wurde aufgerufen und begrüßte somit die Kampfrichterschaft.

„Gratuliere Lexi! Du warst so super!" Tina fiel mir als Erste stürmisch um den Hals und drückte mich ganz fest. Es folgte Lucrezia, die mich euphorisch küsste und mir ebenfalls ihre Glückwünsche zuteilwerden ließ. Dann zogen mich auch noch meine Mutter, Gerald, Lucys Eltern und Clara in eine Umarmung, Tobi klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich hatte wirklich die Europameisterschaft hinter mich gebracht und das mit einem gar nicht so schlechten Ergebnis! Ich war in den Top Ten gelandet und hatte meinem Heimatland und meinem Sportverein damit definitiv alle Ehre gemacht. Dass ich nicht gewinnen würde, war mir von Anfang an klar gewesen, dazu hatte ich einfach viel zu spät wieder damit begonnen, diese Sportart auszuüben, doch ich war mit meinem Ergebnis mehr als zufrieden. „Jetzt kommt also der Teil, auf den ich mich am meisten gefreut habe, das Feiern!", jubelte Tobi und löste damit schallendes Gelächter aus. Tinas Freund hatte sich in den letzten Jahren kein bisschen verändert und es tat irgendwie gut, zwischen all den neuen Lebensumständen diesen Fixpunkt zu haben, der konstant gut gelaunt und für andere da war. Tina und Tobi waren nach der Matura ebenfalls nach Graz gezogen und auch meine beste Freundin war am besten Weg, ihr Studium abzuschließen. Tobi arbeitete als technischer Zeichner in einem großen Autokonzern, Tina studierte Erziehungs- und Bildungswissenschaften, ganz so, wie ich es mir für sie immer gut vorstellen hatte können. „Ich denke, wir lassen unsere Heldin mal in die Umkleide gehen, damit sie sich aus diesem engen Wettkampfoutfit schälen kann und dann machen wir uns auf den Weg ins Hotel. Der Champagner ist bereits kaltgestellt", zwinkerte Lucy dem Rest der Meute zu und folgte mir dann in meine Garderobe.

„Auf Lexi, die heute gezeigt hat, dass man alles erreichen kann, wenn man nur daran glaubt und niemals aufgibt. Und natürlich auf Lucrezia, die unsere Tochter in alldem wohl am tatkräftigsten unterstützt hat. Wir sind froh, dass ihr beide euch gefunden habt und dass wir Lexi in guten Händen wissen. Auf euch und einen schönen Abend!" Die Worte meiner Mutter rührten mich zutiefst und auch meine Verlobte schienen sie nicht völlig kalt zu lassen, denn sie wischte sich gerade so unauffällig wie möglich mit ihrem Ärmel eine einzelne Träne weg. „Ich liebe dich so sehr, Lexi! Das kannst du mir gar nicht glauben..." Ich lächelte breit und meinte: „Oh doch, denn ich liebe dich mindestens genauso. Du bist alles, was ich brauche und doch so viel mehr. Du bist meine Welt und ich kann es gar nicht erwarten, mit dir vor den Altar zu treten..." Ich lehnte mich zur Liebe meines Lebens und küsste sie so gefühlvoll wie möglich, doch die Stimme meiner besten Freundin zerstörte diesen romantischen Moment gekonnt: „Ihr könnt euch später in eurem Zimmer vernaschen, Leute, jetzt wird gefeiert!" Und schon hielten wir das nächste Glas Sekt in der Hand, um anzustoßen. Womit hatte ich dieses wunderschöne Leben nur verdient...

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt