#6 Was verheimlichst du?

2.4K 150 4
                                    

POV Lucrezia Villani

Ich war zwar erst seit diesem Schuljahr an dieser Schule, doch das bedeutete nicht, dass ich zuvor noch keine Lehrerin gewesen war. Mit meinen 30 Jahren hatte ich durchaus schon viel erlebt, doch dass eine Schülerin den Mut aufbrachte, in meiner Gegenwart so aufmüpfig zu werden, das war Premiere. Dieses Mädchen brachte mein Blut zum Kochen, immer und immer wieder und doch weckte sie einen Teil in mir, den ich so lange zu unterdrücken versucht hatte. Sie weckte den Willen, ihr das Leben schwer zu machen, die Lust, sie zu dominieren, doch das war keinesfalls professionell und das hatte auch sie schon mehrmals festgestellt. Dabei war ich immer die Professionalität in Person gewesen! Ich hatte immer versucht, Beruf und Privatleben strikt zu trennen und alles regelkonform abzuhalten. Wie schaffte es eine einzige Person, ein Teenager, mich dazu zu bringen, meine Prinzipien ohne auch nur mit der Wimper zu zucken über Bord zu werfen? Und mich dabei vor allem keine Sekunde ernsthaft an meinem Handeln zweifeln zu lassen? Dieses Mädchen stellte eine Gefahr für mich da, ich sollte mich von ihr fernhalten. Und doch wusste ich tief in mir, dass das gar nicht so einfach werden würde.

Ich stand nun wieder in der Turnhalle und versuchte, meine unguten Gedanken und Gefühle zu verdrängen, doch ich war neben der Spur. Die Situation in der Umkleide hatte mir nicht nur meinen letzten Nerv geraubt, sondern auch eine Reaktion meines Körpers hervorgerufen, die ich nicht wahrhaben wollte. Ich war in diesem Moment erregt gewesen und auch jetzt fühlte ich noch immer das Verlangen nach Erlösung. Ich versuchte nun aber, meine Konzentration wieder auf das Geschehen in der Halle zu richten, denn wenn sich jemand hier verletzen würde, war das wohl die letzte Turnstunde, die ich hielt.

„Wir wechseln nun das Gerät!", rief ich und zu meiner Verwunderung war meine Stimme nicht mehr brüchig und rau wie vorhin, sondern wieder ganz die alte. Ich würde sogar behaupten, sie war gerade noch schneidender als sonst gewesen, denn einige Schülerinnen waren erschrocken zusammengezuckt, als ich sie erhoben hatte. „Frau Sommer, zeigen Sie bitte die Kombination Rolle, Handstand, Rolle rückwärts vor", bat ich Lexis beste Freundin. Diese schien nicht ganz glücklich mit ihrer Aufgabe zu sein, doch sie traute sich offensichtlich nicht, sich das anmerken zu lassen. So mochte ich diese kleinen Wesen, still und gefügig. Fuck, was dachte ich da nur schon wieder? Ich musste wirklich auf andere Gedanken kommen.

Nachdem diese Tina die Übung nicht wirklich schön gezeigt hatte, wurde mir die Gelegenheit dazu wohl auch gegeben, denn ich beschloss, es selbst vorzuzeigen und um mich nicht zu blamieren, legte ich meinen gesamten Fokus auf diese Mission. Ich hatte nicht umsonst ein Sportstudium absolviert, auch wenn ich hier nur für die Fächer Deutsch und Italienisch eingesetzt wurde. Nachdem ich die Elemente erfolgreich gemeistert hatte, drehte ich mich jedoch zur Tür, da ich irgendwie Blicke auf mir spürte und was sollte ich sagen, da stand sie in ihrer normalen Schulkleidung, lehnte im Türrahmen und... grinste verschmitzt! Was an „Raus aus meinem Unterricht" hatte sie denn bitte nicht verstanden?!

Ich stapfte verärgert auf sie zu und wollte sie gerade zur Rede stellen, da betrat noch jemand die Halle: die Direktorin. Fuck, was wollte die denn hier?! Hatte die Kleine etwa gepetzt? Ich musste aussehen, als hätte mich ein LKW überrollt, so überfordert war ich gerade, doch dann begann die Schulleiterin auch schon zu reden: „Lucrezia, kann ich dich bitte kurz sprechen?" Mein Puls schoss noch weiter in die Höhe, das klang nicht gut. Wie sollte ich mich denn rechtfertigen? Ich meine, ich wusste doch selbst, dass mein Verhalten nicht angemessen war, doch das konnte ich kaum einfach zugeben, schon gar nicht vor ihr. Nach einer Ewigkeit antwortete ich dann: „Natürlich..."

Ich folgte ihr aus der Halle auf den Gang, der die Türen zu den Umkleiden beherbergte, nachdem ich nochmal einen Seitenblick auf Lexi geworfen hatte, deren Lachen noch immer nicht verrutscht war und ich erinnerte mich dann auch sofort wieder an die Aktion von vorhin an dieser ersten Türe. Mit dieser Erinnerung kam auch wieder das Gefühl in mir hoch, das ich vorhin so dringend zu unterdrücken versucht hatte, doch diesmal mischte es sich mit Unbehagen. „Lucrezia, ich habe mir gedacht, ich schaue mir mal an, wie du dich so schlägst, aber wie ich sehe, funktioniert ja alles bestens, oder?" Ich atmete auf, was mir einen verwirrten Blick von Andrea Weinberg einbrachte, doch dann antwortete ich sofort: „Ja, einige Wenige weigern sich, am Unterricht teilzunehmen, doch die Unmotivierten gibt es immer, nicht wahr?" Ich hatte im Moment dieser Aussage sofort an Lexi gedacht und war bereits knapp davor gewesen, sie zu verpetzen, doch das wäre jetzt nicht fair, sie hatte immerhin auch kein Wort über unsere Begegnungen verloren. Dachte ich wirklich gerade darüber nach, ob ich wohl fair zu ihr war? Gott, wo hatte sich meine Gleichgültigkeit denn plötzlich hinverzogen? Vermutlich hatte ich nur Angst, sie würde sich dann an mir rächen. „Ja, das stimmt. Aber wie gesagt, mir ist aufgefallen, dass die Mädels sich recht gut schlagen und da Sabine wohl noch länger fehlen wird, dachte ich mir, du möchtest vielleicht ihre Turngruppe in dieser Zeit regulär übernehmen? Natürlich mit dementsprechender Entlohnung..." Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte sie mir wirklich gerade angeboten, Pirker weiterhin zu vertreten? Sportstunden waren der perfekte Ausgleich zu meinem Alltag, das war schon in meiner ehemaligen Schule so gewesen, weshalb ich nicht lange zögerte und das Angebot annahm. Die Direktorien schien erleichtert, vermutlich, weil sie sonst einen Mann mit dieser Aufgabe betrauen hätte müssen und die Mädchen waren davon, wie ich aus eigener Erfahrung wusste, nie sehr begeistert.

Die beiden Stunden waren nun endlich um und ich hatte gleich eine frei und somit Zeit, meine Gedanken zu sortieren. So ließ ich mich jetzt auch auf den Stuhl in der Lehrerkabine nieder und atmete dreimal tief durch, das half meistens, um wieder klar denken zu können.

Wieso brachte mich dieses Mädchen so auf die Palme und was hatte sie an sich, was sie noch nicht uninteressant für mich machte? Für gewöhnlich interessierte mich eine Frau nämlich maximal für eine Nacht, doch von dieser Lexi wollte ich irgendwie alles wissen. Ich wollte sie und ihre Art verstehen, obwohl ich wusste, dass mich das viel Zeit und Energie kosten würde. Wäre es das wirklich wert? Und hatte ich mich nicht eigentlich von ihr fernhalten wollen, um mich selbst nicht in Schwierigkeiten zu bringen?

Bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, hatte ich schon mein Handy aus meiner Tasche gezogen und googelte ihren Namen. Zuerst schien nichts Spannendes dabei zu sein, doch auf der zweiten Seite fand ich etwas, das umgehend meine Aufmerksamkeit auf sich zog: eine Ergebnisliste. Ich öffnete die Website, betrachtete sie genauer und meine Augen weiteten sich. Es handelte sich hierbei doch tatsächlich um einen Geräteturnwettbewerb, den sie angeblich gewonnen hätte! Konnte das wirklich die Alexandra Falkner sein, die ich kannte? Die gleiche Alexandra Falkner, die heute noch den Turnunterricht in genau dieser Sportart verweigert hatte, weil sie angeblich nichts könnte? Ich scrollte weiter und fand in der U20-Klasse dann noch jemanden mit diesem Nachnamen: Julie Falkner. Wer war denn das nun?

Schon durchsuchte ich die Galerie zu diesen Bundesmeisterschaften und ich wurde dann schnell fündig: ein Bild der Meisterinnen der Unter- und Oberstufenwertung. Bei der linken der beiden stolz in die Kamera lächelnden Mädchen handelte es sich definitiv um meine Schülerin. Sie hatte geflochtene Haare und trug ein blau-schwarzes Turndress mit Glitzersteinen. Das Einzige, was sie von der heutigen Lexi unterschied, war ihr Alter, denn die Bilder und die Ergebnisse waren von vor vier Jahren, also musste sie da etwa 14 gewesen sein. Erst jetzt betrachtete ich die Gewinnerin neben ihr genauer und mir fiel auf, dass sie sich verdammt ähnlich sahen. Nun sprang mir die Bildbeschreibung ins Auge und ab da war mir alles klar:

Alexandra und Julie Falkner – das Geschwisterduo, das sich nun schon das dritte Jahr in Folge die Meistertitel geholt hat.

Wahnsinn, damit hatte ich echt nicht gerechnet. Ich hatte allgemein nicht angenommen, nur bei einer Google-Suche ihres Namens auf so etwas zu stoßen. Ob ihre Mitschüler wohl etwas von ihren Erfolgen wussten? Und warum verheimlichte sie mir ihr Talent? Sie sollte doch wohl eher stolz darauf sein! Diese Schülerin war mir ein Rätsel und anstatt der Lösung näherzukommen, entfernte ich mich gefühlt nur weiter davon, je mehr ich über sie erfuhr. Es war wie bei einem Labyrinth, wo man zuerst dem Ziel ganz nahe kam, knapp davor jedoch wieder auf eine Wendung stieß, die einen dann noch eine ganze Weile weiter herumirren ließ. Welche Geheimnisse dieses Mädchen wohl noch so mit sich rumschleppte?

In you I found remedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt