Neunundachtzig

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Im Inneren schlug mir der Geruch nach Tod förmlich ins Gesicht. Es war eine Mischung aus abgestandener Luft und Desinfektionsmittel.

Der Wächter lag auf dem Feldbett, einer seiner Kameraden saß auf dem Stuhl daneben. Als der Staff Sergeant mich sah, bat er den Mann in Englisch mich unter vier Augen sprechen zu können, woraufhin er das Zelt verließ.
 
„Ihre Kameradin hat mir ausgerichtet, Sie wollen mich sprechen", sagte ich, weil ich noch immer keinen blassen Schimmer hatte, warum ich hier war. Ich hatte mich seiner Sprache angepasst. Falls es ihn wunderte, dass eine Ailée englisch sprach, zeigte er es nicht.

„Sie erkennen mich nicht wieder?", fragte der Mensch, meine Ratlosigkeit erkennend.

„Sollte ich?"

Er verzog das Gesicht als er versuchte sich ein wenig aufzusetzen. Sein Oberkörper steckte in einem Leinenhemd, darunter kamen unzählige Verbände zum Vorschein. Er war jung, höchstens Mitte Zwanzig, aber der kurze Bart ließ ihn um mindestens zehn Jahre altern. Seine Haare hatten die gleiche Farbe wie die meines Bruders, bevor sie rot geworden waren.
 
„Naja, ich war derjenige, der sich von einer Mutation hat erwischen lassen."

Gerade als ich erwidern wollte, dass er sicher nicht der einzige war, auf den das zutraf, erkannte ich ihn wieder. Es war der Wächter, der mich zur Seite gestoßen hatte, um zu verhindern, dass mir eine Mutation in den Rücken sprang.

„Dann muss ich mich wohl bei Ihnen bedanken, dass Sie mein Leben gerettet haben."

Er lachte leise, obwohl ich ihm ansah, dass es ihm Schmerzen bereitete. „Ich bin derjenige, der Ihnen Dank schuldet. Wären Sie nicht zurückgekommen, hätte dieses Biest mich noch viel schlimmer zugerichtet." Noch ein Optimist. Er lag im Sterben und war dennoch froh, dass es ihn nicht schlimmer erwischt hatte.
 
Als ich darauf nichts erwiderte, deutete er auf den Stuhl neben sich. „Setzen Sie sich doch."

Ich folgte seiner Einladung, in erster Linie, weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst machen sollte. Er hatte mich sicher nicht zu sich gerufen, damit wir darüber streiten konnte, wer wem das Leben gerettet hatte.

Eine Frage beschäftigte mich allerdings schon eine Weile. „Warum haben Sie das getan? Mich weggestoßen?" Im Grund hatte er sich für mich geopfert. Er hatte sich zwischen mich und die Zähne der Mutation geworfen. Ich war die Schlacht immer und immer wieder durchgegangen, aber mir fiel beim besten Willen keine Erklärung ein, warum er das hätte tun sollen.
 
Er sah mich an und für einen Moment klarten seine trüben Augen auf. „Vor ein paar Jahren bin ich einem Ailé mit roten Haaren begegnet, der mehr Gerechtigkeitssinn hatte als gut für ihn war."

Ich richtete mich ein Stück auf. „Sie kannten meinen Vater?"

Seine spröden Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. „Er hat mir das Leben gerettet."

Ich erwiderte die Geste. „Ja, das klingt nach ihm."

„Hat er Ihnen Englisch beigebracht?", wollte er wissen, „Nur die wenigsten Ailés sprechen es."

„Ja, hat er. Er war der Meinung, dass Kommunikation der erste Schritt ist, um die anderen zu verstehen; wirklich zu verstehen. Deshalb hat er meinen Bruder und mich zweisprachig aufgezogen."

Die Trauer im Gesicht des Wächters vertiefte sich. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, dass er ein guter Freund meines Vaters gewesen war. Er schien wirklich zu bedauern, dass er nicht mehr am Leben war, wodurch ich mir einbildete, ihn ein bisschen besser zu kennen. Wie schon bei Caden stellte ich fest, dass die Trauer um die selbe Person sich jemanden seltsam verbunden fühlen ließ.
 
Eine Pause entstand.

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt