Dreiundneunzig

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Der Schlüssel zum Sieg war unsere Verzweiflung. Sie machte uns unberechenbar. Die Nigreos wussten nicht, dass unsere Nahrung so gut wie aufgebraucht war, was bedeutete, dass wir neben dem Vorteil der Überzahl den Überraschungsmoment auf unserer Seite hatten. Wir konnten nur hoffen, dass sie uns unterschätzten und erwarteten, dass wir irgendwann einknickten und aufgaben. Stattdessen würden wir unsere verbleibende Kraft und all die Verzweiflung, die sich in den letzten Tagen angestaut hatte, in einen einzigen, aber gut durchdachten Gegenschlag legen.

Der Plan war die verbleibenden Wächter und Ailés in fünf Angriffswellen einzuteilen. Die erste Gruppe bestand aus Ailés und sollte die Mutationen zu sich locken, die zweite, bestehend aus Wächtern, sollte ihnen ziemlich zeitnah folgen, um sie zu unterstützen. Anschließend folgte die größte Gruppe. Sie würde sich auf die Nigreos konzentrieren. Unser Ass im Ärmel war allerdings die vierte Welle. Sie bestand aus etwa 20 Reitern, deren einzige Aufgabe es war, das Schlachtfeld lebend zu verlassen. Lora Mercier selbst wollte sich ihnen anschließen. Neben der ersten Welle, zu der auch ich gehörte, hatten sie die gefährlichste Aufgabe, weil die Nigreos alles tun würden, um sie aufzuhalten. Sobald zwei von ihnen es geschafft hatten zu entkommen, würden wir uns zurückziehen und darauf warten, dass sie Hilfe schickten. Die fünfte Welle hingegen diente nur zur Verteidigung und sollte die Feinde abwehren, die es doch hinter den Zaun schafften. In erster Linie sollten sie die Verletzten schützen, die nicht in der Lage waren sich selbst zu verteidigen, außerdem sollten sie den anderen Gruppen beim Rückzug helfen.

Klang einfach, war es im Grunde auch. Trotzdem hatte es uns den gesamten Rest des Tages gekostet, um diesen Plan zu entwerfen. Und das, obwohl die Taktiker den Großteil der Arbeit bereits zwei Tage zuvor geleistet hatten. Natürlich waren sie nicht tatenlos herumgesessen, während ihre Leute dabei waren zu verhungern. Warren und die beiden obersten Taktiker waren unzählige Szenarien durchgegangen, hatten Schlachtpläne erstellt, durchgesprochen und wieder verworfen. Sie hatten sich den Kopf zerbrochen.

Allerdings waren sie zu keinem wirklichen Ergebnis gekommen, was wohl der einzige Grund war, dass Général Mercier dazu gebracht hatte Romain Gagniers Vorschlag überhaupt in Betracht zu ziehen.

Zumindest hatte ich mir das eingeredet, während ich mit ihr zusammengesessen war und unseren jetzigen Plan ausgearbeitet hatte. Es war schwer zu akzeptieren, dass sie nicht perfekt war. Denn genau das erwartete man von der Person, die die Entscheidungen traf. Aber je mehr Einblicke ich in den Alltag und die Personen der Ranghöchsten bekam, desto bewusster wurde mir, dass auch sie Fehler machten. Sie irrten sich genauso wie alle anderen auch und das war okay. Sie waren schließlich auch nur Limbs.

Letztendlich war es an uns, den Taktiker, Dox Lynch, Cadens Trupp und einigen Wächtern dann gelungen eben jenen Plan zu entwerfen. Er war beim besten Willen nicht perfekt und unsere Überlebenschancen waren noch immer erschreckend gering, aber es war das beste, was wir tun konnten. Selbst falls wir verlieren sollten, hatte ich zumindest keine moralischen Bedenken. Denn durch diese Belagerung war uns das gelungen, was Jahrzehnten Diplomatie nicht geschafft hatten: Die Zusammenführung von Limbs und Menschen.

Als ich spät abends das Haus des Commandant verlassen hatte, waren Wächter und Ordensmitglieder zusammen am Feuer gesessen und hatten sich unterhalten als hätte es die großen Kriege niemals gegeben. Und obwohl ich es ein wenig heuchlerisch fand erst im Angesicht des Todes den eigenen Stolz herunterzuschlucken und die Feinde zu respektieren, konnte ich nicht anders als mich darüber zu freuen. Schließlich war es all das, was ich mir für die Welt immer gewünscht hatte.

Jetzt lag ich am Boden meines Zeltes und erwachte aus meinem leichten Schlaf. Der bevorstehende Kampf hatte mich bis in meine Träume verfolgt, weshalb ich mich sogar noch geschlauchter fühlte als zuvor. Das Abendessen war ähnlich spärlich gewesen wie das Mittagessen. Der Hunger zerrte zusätzlich an meinen Nerven, das schlimmste war jedoch die Angst. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so fürchten würde, immerhin hatte ich schon ein paar Kämpfe hinter mir. Es war jedoch ein Unterschied einen geplanten Angriff durchzuführen und auf Mission auf Gegner zu treffen, gegen die man sich plötzlich verteidigen musste. Ein gewaltiger.

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