Neununddreißig

378 40 1
                                    

Ich stieg ebenfalls auf und kurz darauf bogen wir um die nächste Ecke.
 
„Caden und Ben werden den Coxy und deine Tante sicher finden", meinte er stattdessen.

Ich runzelte die Stirn. „Was hast du vor, Jules?"

Ertappt sah er mich an. Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich seine Absicht durchschaute, aber ich kannte ihn inzwischen besser als er dachte. „Ich dachte, du kennst dich hier gut aus und könntest vielleicht..." Er zögerte.

„Was?"

„Erinnerst du dich an die Spott, von der ich dir erzählt habe?"

„Eve."

Er nickte und schien ein wenig überrascht, dass ich mit ihren Namen gemerkt hatte. „Sie hat damals hier gewohnt."

Ich lächelte. „Du willst sie suchen", erkannte ich.

Schüchtern wich er meinem Blick aus und nickte.
 
Es war seltsam, ihn so zu sehen. Jules war der älteste von uns und hatte ein gesundes Maß an Selbstvertrauen. Die geröteten Wangen ließen ihn auf eine sympathische Weise unsicher wirken.

Ich hatte keinen der dreien Ailés jemals mit einem Mädchen gesehen. Caden schien das andere Geschlecht genauso wenig zu interessieren wie mich. Zwar hatte ich einige Ailée schon über den Sergent tuscheln hören, aber er war nie auf ihre Annäherungsversuche eingegangen, sondern hatte sie immer kalt abblitzen lassen. Benson war schon eher dafür zu begeistern, aber seine Flirtversuche glichen dem eines Fünfzehnjährigen. Er war genauso alt wie ich, benahm sich aber immer noch wie ein etwas unreifer Teenager. Und jetzt wusste ich auch, warum ich Jules nie mit jemanden hatte ausgehen sehen. Sein Herz war bereits vergeben.
 
„Es gibt eine Ecke im Viertel, in dem die Spotts leben. Wenn du möchtest, können wir dorthin reiten."

Er lächelte. „Gerne."

Ich lenkte Leil an der nächsten Ecke nach links, fühlte mich aber verpflichtet ihn auf das vorzubereiten, was wir dort sehen würden. „Du hast sicher schon mitbekommen, was die Menschen in diesem Viertel von den Ailés halten und sie gelten als die reinsten Limbs", begann ich vorsichtig.

„Was willst du mir damit sagen?"

Ich seufzte. Wenn man die Art, wie sie die Ailés behandelten als herablassend bezeichnen konnte, war das beim Rest eine glatte Untertreibung. Die Spotts galten als schmutzig und dementsprechend wurden sie auch behandelt.

„Der Teil des Viertels sieht echt übel aus, Jules. Ich wollte nur, dass du das vorher weißt."

Wenn man die Leute in diesem Viertel schon arm nannte, wusste ich nicht, wie man die Lebensumstände der Spotts bezeichnen sollte.
 
Ich beobachtete Jules, während wir immer näher an besagtes Gebiet kamen. Je weiter wir südlich ritten, desto schlechter wurde der Zustand der Gebäude und desto mehr Müll lag auf den Straßen herum. Sein Kiefer spannte sich an, als wir an einigen Spotts vorbeikamen, die auf aufgeklappten Pappkartons um ein dürftiges Lagerfeuer saßen und versuchten, sich zu wärmen. Sogar Kinder waren darunter, die in fleckige Decken eingewickelt waren. Früher hatte ich regelmäßig mein gestohlenes Geld hier her gebracht oder Essen und Decken für sie gekauft. Ich hatte so gut wie möglich versucht zu helfen und das war das einzige gewesen, was ich hätte tun können.

Auch dieses Mal konnte ich nicht einfach vorbeigehen. Wir nahmen uns an Caden ein Beispiel und gaben den magersten von ihnen unser Mittagessen. Ich hätte gerne mehr getan und war mir sicher, dass es Jules genauso ging, doch wir hatten weder die Zeit noch genug Essen dafür. Der einzige Grund, warum mir der Anblick nicht das Herz zerriss, war, dass ich wusste, dass es Ailé-Trupps gab, die sich einzig und alleine um solche Limbs kümmerten. Sie reisten umher und versorgten die, die es am dringendsten nötig hatten.
 
„Ich hatte es nicht so schlimm in Erinnerung", flüsterte er irgendwann, „Früher haben wir für eine kurze Zeit in der Stadt gewohnt, bevor wir in das Lager gezogen sind. Meine Eltern haben es gehasst, dass ich mich hier herumgetrieben habe, aber nirgends sonst waren die Leute so nett zu mir."

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt