Achtzig

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Nachdem ich die frische Uniform angelegt hatte, fühlte ich mich zumindest ein wenig besser. Aus den Resten der kaputten Bluse hatte ich mir einen provisorischen Verband gemacht und damit den Streifschuss versorgt. Es war lediglich eine Fleischwunde. Ihre Ränder waren ein wenig ausgefranst, aber schon in drei Tagen würde davon nichts mehr zu sehen sein.

Nachdem ich auch mein Schwert von dem Blut gesäubert hatte, hatte ich mich soweit wieder eingekriegt, dass ich mich auf den Weg zum Haus des Commandant machte. Ich sparte mir das Anklopfen und trat direkt in den kleinen Raum, in dem es ziemlich chaotisch zuging. In einer Ecke saßen Warren und die beiden obersten Taktiker über eine Karte und Dokumente gebeugt, während Cyrus Lynch angestrengt mit Colonel Gagnier und Etienne Girard diskutierte. Lora Mercier stand wie immer in der Ecke und beobachtete alles, doch sie wirkte nicht so ruhig wie sonst. Auch mein Bruder war anwesend. Er schwieg verbissen, aber an seiner Miene konnte ich erkennen wie besorgt er war.
 
„Das können Sie nicht tun!", rief Lynch gerade, „Das wäre unser Tod. Unser aller. Es muss eine andere Lösung geben."

„Wir können und wir werden", entgegnete Gagnier eisern.

Auch Girard sah unglücklich aus. „Es tut mir leid, Dox, aber unsere Leute haben nun mal Vorrang. Das müssen Sie verstehen. An unserer Stelle würden Sie das gleiche tun."

„Das wissen Sie nicht. Sie können uns nicht einfach den Nigreos ausliefern, die nur darauf warten, dass wir den Schutz des Zaunes aufgeben. Sie haben gesehen, was sie mit dem Boten angestellt haben!"

Es war nicht schwer, sich zusammenzureimen, worum es hier ging. Ich kannte Cyrus Lynch nicht wirklich, aber ich hielt ihn für niemanden, der sich schnell unterkriegen ließ. Wenn man von seiner dämlichen Racheaktion einmal absah, war er ein genialer Taktiker und gewiefter Politiker. Er führte die Wächter mit Stolz und Integrität an. Zumindest wenn man den Zeitungen und dem Umstand seines hohen Rangs glauben konnte. Doch jetzt wirkte er hoffnungslos. Immerhin hing das Überleben und das seiner Männer hing von der Gnade seiner Feinde ab.
  
Die Mattheit, die ich gerade eben noch verspürt hatte, wich erneut der Wut. „Sie wollen Sie rauswerfen?", platzte es aus mir heraus, wodurch ich mich nicht nur bemerkbar machte, sondern – wieder einmal – sämtliche Blicke im Raum auf mich zog.

Etienne Girard machte einen Schritt auf mich zu und hob beschwichtigend die Hände. „Nein, Aria, das wollen wir nicht. Aber wir haben keine andere Wahl. Wir haben zwei Boten losgeschickt, um Verstärkung von einem anderen Lager anzufordern und vor wenigen Minuten kamen ihre Pferde mit ihren Leichen auf dem Rücken zurück. Die Nigreos scheinen uns umstellt zu haben und wir haben nicht genug Ressourcen, um 160 weitere Soldaten zu versorgen."

Auf mich wirkte seine Aussage jedoch alles andere als beruhigend. Dabei war es weniger die Tatsache, dass die Nigreos uns im Stil des Mittelalters umstellt hatten und nur darauf warteten, dass uns die Versorgungsgüter ausgingen. Zugegeben, diese Taktik war nicht dumm. Sie wollten an die Oxidium-Ladung, die hier im Lager war, und mussten dafür lediglich vor unserer Tür warten. Zwar glaubte ich, dass wir in Überzahl waren, doch das brachte uns nicht viel, weil sie uns gegenüber mit ihren modernen Schusswaffen und den Mutationen im Vorteil waren. Was mich gerade jedoch mehr beunruhigte, war die Kaltherzigkeit, mit der Girard und der Colonel die Menschen in ihren Tod schicken wollten. Wenn wir sie vor die Tür setzten, würde das ein Massaker geben. Das wussten sie so gut wie ich.
 
„Wir werden unsere eigenen Leute nicht verhungern lassen, nur weil wir ein paar Menschen Asyl gewähren, die uns vor weniger als zwei Stunden noch abschlachten wollten", fügte Gagnier mit zusammengekniffenen Augen hinzu.

Ich bemühte mich darüber hinwegzusehen wie abfällig er über die Menschen gesprochen hatte und versuchte es stattdessen mit Rationalität. „Wir sind den Nigreos gegenüber bereits im Nachteil. Sie haben die besseren Waffen, sind besser vorbereitet und wir sind nur um die 100 Ailés. Wir sollten zumindest den Vorteil der Überzahl aufrecht erhalten."

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt