Dreiunddreißig

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Am nächsten Morgen stand ich auf wie immer und ging zum Frühstück. Erst als ich einen erstaunlich leeren Speisesaal vorfand, erinnerte ich mich daran, dass ich heute überhaupt kein Training hatte. Die meisten Ailés schliefen wohl noch ihren Rausch aus. Doch wenn ich schon mal hier war, konnte ich auch etwas essen.

Ich schaufelte mir etwas Obstsalat, der den Ordensmitgliedern vorbehalten war, auf den Teller und setzte mich an meinen angestammten Platz. Ich hatte gerade begonnen, zu essen, als ich den Blick der Ailée bemerkte, die in der Nähe saß. Während des Essens unterhielt ich mich ab und zu mit Marine, mehr hatten wir aber nicht miteinander zu tun.

Als ich aufsah, schüttelte sie den Kopf. „Was machst du schon so früh hier?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Innere Uhr."

„Neunundneunzig Prozent der Rekruten und ungefähr die Hälfte des Ordens schlafen noch, weil sie sich gestern die Kante gegeben haben. Es gibt einen guten Grund, warum wir den Tag nach der Zeremonie frei bekommen. Was war mit dir gestern? Kein Alkohol? Trinken Menschen kein Alkohol?"

Ich hob eine Augenbraue und war erstaunt, wie wenig sie über die Menschen wissen musste. „Die Menschen haben den Alkohol erfunden. Darum wissen wir auch um die Kopfschmerzen am nächsten Tag, auf die ich gerne verzichte. Was ist mit dir?"

„Einer muss ja aufpassen, wenn alle anderen in irgendwelche Büsche kotzen oder noch komplett ausgeknockt sind. Sonst kommen diese Bastarde noch auf die Idee, das auszunutzen und das Camp zu überfallen. – Oh, tut mir leid."

Ich winkte ab, obwohl mich ihr blinder Hass anekelte. Vor allem, rein grammatikalisch betrachtet, waren wir hier die Bastarde. Aber ich würde ihr das nicht sagen. Ich hatte längst aufgehört, mich für meine menschliche Seite zu rechtfertigen. Wenn sie sie störte, war das nicht mein Problem.

„Kam das denn schon mal vor?", wollte ich stattdessen wissen.

„Was? Dass das Lager angegriffen wurde? Ja, besonders während des letzten Krieges. Seit Frieden herrscht, nur ein oder zwei Mal, aber das ist auch schon wieder über zehn Jahre her. Mindestens. Aber man kann ja nie wissen. Vor allem jetzt, wo die politische Lage so angespannt ist. Wenn du mich fragst, läuft das auf den nächsten Krieg hinaus." Sie schaufelte sich weiter ihr Müsli in den Mund und klang nicht gerade, als würde sie sich große Sorgen darum machen. So wie sie es sagte, konnte man meinen, dass ein weiterer Krieg unabwendbar war und sie sich längst mit dieser Tatsache abgefunden hatte. Vielleicht schwang sogar ein winziges bisschen Vorfreude in ihrer Stimme mit, was mich noch mehr anwiderte.

„Und du? Du bist jetzt Mitglied des Ordens. Du musst nie wieder das Training über dich ergehen lassen und dich nie wieder von Yates anbrüllen lassen. Sie ist eine richtige Tyrannin, oder?"

„Sie ist eigentlich gar nicht so übel", murmelte ich. Langsam ging sie mir auf die Nerven. Marine war jemand, der sich sofort ein Bild von etwas oder jemanden machte und weiterhin daran festhielt. Sie machet sich nicht die Mühe, weiter über etwas nachzudenken oder denjenigen besser kennenzulernen.

„Wirklich? Na, wenn du meinst. Also? Was hast du jetzt vor?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.", gestand ich, „Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht."

„Hm, erstmal ein wenig blau machen und so tun, als wüsste man einfach nicht, was man will? Hätte ich vielleicht auch machen sollen. Aber es gibt sicher ein paar tolle Aufgaben innerhalb des Lagers. Die in der Küche suchen immer welche. Und mit dem Schmied verstehst du dich ja auch ganz gut. Wie heißt er nochmal? Naja, egal. Vielleicht nimmt er dich als Lehrling."

Je länger ich mich mit ihr unterhielt, desto unsympathischer wurde sie mir. Wahrscheinlich dachte sie, weil ich halb Mensch war, hatte ich nur Chance auf eine Aufgabe innerhalb des Camps. Machte sie das mit Absicht? Nichts gegen Gaspard und seine Schmiedekunst oder die Köche, die wirklich hervorragend waren, aber das war einfach nicht das, was ich wollte.

Aber Marine machte mir zumindest klar, dass ich eine Stelle außerhalb des Lagers haben wollte. Ich wollte die Welt sehen, mir ein eigenes Bild von ihr machen. Ich wusste so schrecklich wenig. In der Schule hatten wir zwar über die Kriege, die politischen Verhältnisse und die momentane Lage zwischen den zwei Fronten, den Limbs und den Menschen, gesprochen, aber das reichte mir nicht. Da es eine menschliche Schule gewesen war, war der Unterricht immer ziemlich einseitig gewesen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Geschichte auch von der anderen Seite aus zu betrachten. Außerdem konnte man das nicht damit vergleichen, es mit eigenen Augen zu sehen, die Auswirkungen der Vergangenheit selbst zu spüren. Immer bewusster wurde mir, wie sehr das Camp und mein ehemaliges Stadtviertel einen von der wahren Welt abgeschirmt hatten. Vielleicht dachte ich das aber auch nur, weil ich damals noch zu jung und zu ängstlich gewesen war, um die Wirklichkeit zu sehen.

Als ich nichts auf Marines Vorschläge antwortete, fuhr sie einfach fort: „Du wirst schon irgendwas finden. Was stellst du dann mit diesem Tag an? So viel Freizeit hattest du wohl lange nicht mehr."

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt