Achtunddreißig

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Die nächste Stadt war laut den Ailés anderthalb Tagesritte entfernt und als wir am Mittag des zweiten Tages dort ankamen, lohnte es sich nicht, weiter zu reiten, weshalb wir den Rest des Tages dort verbringen würden.

Ich kannte mich in der Gegend kaum aus und erst als wir die Stadt vor uns sahen, erkannte ich sie. „Das ist die nächste Stadt?", fragte ich und die Brüder nickten, „Danke für die Vorwarnung, Milani."

Als Antwort erhielt ich lediglich eine Art Schnauben.
 
Wenig später erreichten wir die alten Straßen und die Hufe unserer Pferde klapperten auf dem Asphalt. Hier fuhren kaum Autos, da wir in einem ärmeren Viertel der Stadt waren. Genauer gesagt  dem Viertel, in dem ich früher mit Tante Jill gewohnt hatte.

Ich schluckte. Seit ich vor drei Jahren in das Auto zu Caden gestiegen war, war ich nicht mehr hier gewesen. Es hatte sich kaum verändert. Die Häuserfassaden waren immer noch genauso schmutzig und an den Straßenecken lagen die gleichen Mülltüten herum. Doch jetzt, da ich anderes gewöhnt war, kam es mir noch heruntergekommener vor.
 
„Hier bist du aufgewachsen?", fragte Ben.

Etwas wie Scham kroch in mir hoch. Ich war nicht stolz darauf, hier gelebt zu haben, aber es war nicht meine Schuld gewesen. „Als Dad noch gelebt hat, haben wir in einem besseren Teil der Stadt gewohnt. Nicht in der Innenstadt, sondern etwas weiter außerhalb. Aber nach seinem Tod konnten wir das Haus nicht länger bezahlen und mussten zu Tante Jill ziehen. Sie hat alles verkauft, damit wir über die Runden kommen."

„Stimmt es, dass du gestohlen hast?" Ich hörte Jules an, dass ihm die Frage unangenehm war. „Ich habe Gerüchte gehört und..."

„Ja, habe ich." Das war etwas, wofür ich mich nicht schämte. „Nach dem Robin-Hood-Prinzip. Nimm von den Reichen und gib es den Armen. Als Dad noch lebte, ging es noch, aber danach haben die Leute mich spüren lassen, dass ich nicht ganz menschlich bin. Wo ich auch hingegangen bin, ich wurde abgewiesen. Meine Tante eingeschlossen. Diese Stadt hat mir das Leben immer nur schwer gemacht, ich war ihr nichts schuldig."

„Also hast du sie bestohlen." Cadens Bemerkung war ohne Wertung. Es war eine einfache Feststellung.

„Gut möglich, dass es falsch war, aber ich bereue es nicht."

„Was hast du mit dem Geld gemacht?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Mal dies, mal das. Ab und zu habe ich einigen Limbs etwas abgegeben, ein paar Mal habe ich mir Bücher gekauft und manchmal habe ich es auch in die Haushaltskasse geschmuggelt, wenn das Geld am Monatsende wieder einmal knapp wurde. Lex hat damals auch den Großteil seines Solds an Jill geschickt, aber nach seinem Tod waren wir wieder knapp bei Kasse."
 
Es folgte betretendes Schweigen.

„Hey, so schlimm war es nicht", versuchte ich die Sache herunterzuspielen, doch es funktionierte nicht.

„Lasst das", sagte ich dann.

„Was?", fragte Benson unschuldig.

„Diese Blicke. Ich will nicht, dass ihr mich anseht, wie das arme Mädchen, das seit ihrer Kindheit dem Rassismus beider Seiten ausgesetzt ist, ihre ganze Familie verloren hat und stehlen musste, um sich das gönnen zu können, was andere für selbstverständlich halten. Ich will nicht von euch bemitleidet werden."

„Keine Sorge", meinte Caden genauso ungerührt wie immer, „Wenn du glaubst, dass ich dich wegen deiner schweren Vergangenheit weniger hart rannehmen werde, hast du dich geschnitten."

Ich lächelte. Zum ersten Mal war ich für seine Ruppigkeit dankbar.
 
Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne. Ärmlich gekleidete Limbs kamen an den Straßenrand gelaufen und einige von ihnen winken uns sogar zaghaft zu. In diesem Viertel waren sie ungefähr so viel wert wie streunende Hunde und genau so wurden sie auch behandelt.

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt