Neunundsiebzig

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Ich konnte nicht glauben, dass ich noch am Leben war.

Mein schwerer Atem übertönte sämtliche anderen Geräusche, lauter war nur mein pochendes Herz. Brutal hämmerte es gegen meinen Brustkorb und ließ meinen gesamten Körper erzittern. Ich konnte nicht sagen wie lange ich dort lag und nach Luft rang, aber die Bilder der toten Wächter, die hinter meinen geschlossenen Augenlidern brannten, brachten mich schließlich dazu sie zu öffnen.
 
Ein besorgtes Gesicht erschien über mir. „Tu das nie wieder", stieß mein Bruder hervor. Blutspritzer klebten auf seiner Wange und seine Haare standen ihm wild vom Kopf ab, was mich ein wenig an mein eigenes Spiegelbild erinnerte.

„Was genau meinst du?", fragte ich.

„Ja, Lex", kam es von Caden, der ganz in der Nähe stand und entnervt auf mich herabsah, „Welche ihrer vollkommen wahnsinnigen und behämmerten Ideen meinst du?"

Ich unterdrückte den Drang meine Augen zu verdrehen. Stattdessen überging ich seinen Einwurf und sah wieder zu meinem Bruder. „Ich konnte diese Leute nicht sterben lassen."

Er seufzte. „Das meinte ich nicht."

Ich presste die Lippen zusammen. Er sprach nicht davon, dass ich mich nicht gleich in Sicherheit gebracht hatte, sondern davon, dass ich mich quasi selbst hatte opfern wollen. „Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Und es hat funktioniert, oder?" Mich Cyrus Lynch in den Weg zu stellen, war eine Kurzschlussentscheidung gewesen, trotzdem würde ich es wieder tun.

„Funktioniert?", schnaubte er, „Du konntest nicht wissen, dass er dein" Er suchte nach dem passenden Wort. „dein Angebot ablehnt. Du kannst doch nicht einfach–"

„Ich habe nur das getan, was du auch getan hast", fiel ich ihm ins Wort, „Ich wollte mein Leben für etwas größeres opfern. So wie du es getan hast, als du zugelassen hast, dass dich alle für tot halten und Nachforschungen über die Nigreos betrieben hast." Und ich würde mich sicher nicht dafür entschuldigen.
 
Tatsächlich klappte Lex seinen Mund wieder zu, aber ich sah wie seine Zähne aufeinander mahlten.

„Muss wohl in der Familie liegen", brummte Caden, bevor er mir seine Hand hinstreckte und mich auf die Füße zog.

Meine Glieder protestierten und ich unterdrückte ein Ächzen. Das Adrenalin hatte meine letzten Energiereserven freigesetzt, jetzt fühlte ich mich ausgelaugt. Der Streifschuss an meinem Oberarm brannte, meine Beine schmerzten und überhaupt fühlte ich mich kaum dazu in der Lage aufrecht zu stehen. Hinzu kam all das, was in den letzten Stunden auf mich eingestürzt war. Der Kampf mit Aurelie Labelle, der mit Caden, sein Geständnis, Warrens Hiobsbotschaft. Was in der letzten Stunde auf mich eingestürzt war, war viel zu viel auf einmal, dennoch schaffte ich es irgendwie mich auf den Füßen zu halten.
 
Ein Bogenschütze trat in mein Blickfeld. „Du hast Schwein, dass du mir vor einem Monat Nachhilfe im Bogenschießen gegeben hast", meinte Benson.

Ich hob eine Augenbraue, während ich versuchte nicht zu sehr zu schwanken. „Das mit dem Pfeil warst du? Guter Schuss", lobte ich ihn, woraufhin der jüngere Farrow sich auf die Lippe biss.

„Um ehrlich zu sein, habe ich auf das Herz gezielt", gab er zu, was mich zum Lächeln brachte.
 
Doch es hielt sich nicht lange. Als ein Wimmern meine Aufmerksamkeit auf die Umgebung lenkte, sackten meine Mundwinkel wieder in sich zusammen.

Um uns herum herrschte das reinste Chaos. Auf dem Wehrgang standen noch immer Bogenschützen, die vermutlich auf die Mutationen davor schossen. Einige Wächter unterstützten sie, doch ich konnte mich nicht darüber freuen, dass die Menschen und Limbs zumindest für einen kleinen Moment ihre Differenzen beiseite gelegt hatten. Dafür waren die Schmerzenslaute der Verletzten zu laut. Sowohl Wächter als auch Ordensmitglieder lagen auf dem Boden und wurden notdürftig von ihren Kameraden versorgt. Einige hatten Schusswunden, anderen fehlten ganze Gliedmaßen oder sie hatten tiefe Wunden, die die Klauen der Mutationen in ihr Fleisch gerissen hatten. Der metallische Geruch von Blut lag in der Luft und ich musste meinen Blick von dem Mann abwenden, den Cyrus Lynch vorhin weggetragen hatte. Tatsächlich fehlte die Hälfte seines Beines und sein schmerzverzerrtes Gesicht ließ mich erahnen, dass er seine Schreie verschluckte. Der Dox kniete neben ihm und zog gerade den Gürtel fester, den er um den Stummel geschlungen hatte, als zwei Ailés angerannt kamen. Eine der Ailées kannte ich. Sie hatte mir die Schmerzmittel gegeben als ich damals meine Flügel bekommen hatte.
 
„Bringt die Verletzten zur Krankenstation!", tönte Lora Merciers Stimme über den Platz und riss mich damit zurück ins Hier und Jetzt, „Jeder, der noch gehen kann und keine anderen Befehle bekommt, hilft die Verletzten zu versorgen. Romain, Sie zeigen ihnen, wo die Krankenstation ist."

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt