Achtundsechzig

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Sonnenstrahlen brachen sich in den silbernen Blättern des forêt d'argent und die Lichtreflexe tanzten über meine Haut.

Noch immer konnte ich nicht genug von dem mutierten Wald bekommen und meinem Bruder schien es genauso zu gehen. Seit einer guten halben Stunde hatte er den Kopf in den Nacken gelegt und sah nach oben. Vermutlich war er jahrelang nicht mehr hier gewesen oder aber er versuchte sich einfach abzulenken. Er gab sich zwar große Mühe seine Aufregung zu verbergen, aber ich sah sie ihm an. Er lächelte nicht so breit wie sonst und seine Hände bearbeiteten das ohnehin schon abgenutzte Leder von Cassians Zügel.

Ich konnte ihn verstehen. Ich konnte ebenso wenig vorhersagen wie die Ordensmitglieder reagieren würden wie er. Hinzu kam, dass wir keine Ahnung hatten wie es weitergehen sollte. Ob er wieder einem Trupp zugeteilt werden würde oder ob es ein Problem war, dass er keine Flügel mehr hatte. Für mich war und blieb er ein Ailé, aber ich konnte nicht sagen, ob alle Ordensmitglieder der gleichen Meinung waren. Schließlich hatten ich nicht vergessen wie sie mich behandelt hatten als ich noch keine Schwingen gehabt hatte.
 
Nach einer gefühlten Ewigkeit richtete Lex seinen Blick wieder nach vorne und fuhr sich über den Nacken. Das Glänzen des Silbers wurde weniger und bald hatten die Blätter der Bäume wieder ein sanftes hellgrün angenommen. Der Frühling hatte den Winter in den letzten Tagen endgültig vertrieben. Sämtliche Pflanzen erwachten gerade aus ihrem Winterschlaf und die Sonne kämpfte sich hartnäckig durch das Blätterdach. Nach den kalten letzten Monaten war es schön die Wärme auf der Haut zu spüren.

„Ein schöner Tag für eine Auferstehung", meinte Benson, der Alaska neben Lex lenkte. Dieser lächelte dünn. Er wusste genauso gut wie wir anderen, dass es bis zum Lager nicht mehr weit war.
 
Tatsächlich dauerte es nur noch etwa eine halbe Stunde bis ich Salz in der Luft schmeckte. Mir fiel erst jetzt auf wie sehr ich das Meer und die Küste vermisst hatte. Nachts das Rauschen des Wassers zu hören, das leicht gegen die Steilküste schwappte oder an meinem Lieblingsplatz zu sitzen und dabei zuzusehen wie die Wellen an dem schroffen Stein zerschellten.
 
Doch als wir endlich um die letzte Kurve bogen und das Lager nicht mehr von Bäumen verdeckt wurde, erwartete mich ein Anblick, den ich nicht erwartet hatte.

Ich runzelte die Stirn und sah zu den anderen Ailés, nur um festzustellen, dass sie genauso überrascht waren wie ich. Vor uns ragten angespitzte Baumstämme auf, die in die Erde eingegraben worden waren. Lückenlos reihten sie sich aneinander und bildeten eine Mauer, die das Camp umgab und von dem Rest der Welt abschirmte.

„Hat sich doch einiges verändert, während ich weg war", murmelte mein Bruder.

Jules schnaubte. „Das ist auch neu für uns."

Scheinbar waren sogar die Pferde von diesem riesigen Wall verunsichert, weshalb sie immer langsamer wurden, bis sie schließlich ganz stehen blieben. Zugegeben, ich war ein wenig sprachlos. Wie lange waren wir weg gewesen? Jahre? War es möglich, dass jemand so ein Ding innerhalb weniger Monate quasi aus dem Boden stampfte? Offensichtlich schon.

„Scheint als wären wir nicht die einzigen, die in den letzten Wochen fleißig waren", meinte Caden trocken und brachte Asra mit einem leichten Schenkeldruck dazu sich wieder in Bewegung zu setzen.
 
Wir folgten unserem Sergent, der selbstsicher wie immer auf das Tor zuritt. Während der Zaun ziemlich abschreckend wirkte, hatte die weit offen stehende Tür etwas einladendes, dem wir gerne nachkamen. Ich blieb mit Leil ein Stück weit hinter Cassian und beobachtete meinen Bruder. Mit angespannten Schultern ritt er über die Schwelle; zurück in sein altes Leben.
 
Zuerst wurden wir kaum wahrgenommen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Trupps von ihren Aufträgen zurückkehrten oder Ailés aus anderen Lagern hier Unterschlupf suchten. Doch es dauerte nicht lange bis ein Ordensmitglied genauer hinsah. Als er Lex erkannte, weiteten sich seine Augen und er blieb stehen. Das wiederum fiel einer anderen Ailée auf, die ihrerseits stehenblieb und so kam es, dass sich nach kurzer Zeit das halbe Lager unseren Weg säumte. Unruhiges Getuschel begleitete uns, als unsere Pferde in Richtung der Haupthäuser trotteten. Jacob hatte seine Schultern durchgedrückt und als er sich unruhig umblickte, sah ich das unsichere Lächeln auf seinen Lippen.
 
Dann hörte ich es. Eine dumpfe Taktfolge. Eine Ailée klopfte mit ihrer Faust auf ihren Oxidium-Brustpanzer und nacheinander stimmten die anderen in den Takt mit ein.

Eine Gänsehaut zog sich über meine Arme. Unter Ailés war es eine Art Ehrerbietung. - Eine Ehrerbietung, die Lex galt. Dafür, dass er überlebt hatte und nach Hause zurückgekehrt war. Sogar die Luft schien in dem Rhythmus zu vibrieren und in mir breitete sich Wärme aus. In diesem Moment schien das ganze Lager eins zu sein.
 
Wir waren endlich Zuhause angekommen.
 
Vor dem Haus den Commandante kamen wir schließlich zum Stehen und glitten aus den Sätteln. Caden ging voraus, um Etienne Girard Bericht zu erstatten, aber in diesem Augenblick ging die Tür bereits auf und er erschien im Rahmen. Er brauchte einen Moment bis er verstand, was los war. Als er Lex entdeckte entgleisten seine Gesichtszüge, doch er hatte sich schnell wieder gefangen. Mit einem ungläubigen Lächeln ging er auf meinen Bruder zu und blieb vor ihm stehen.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll", gab er zu und hob die Hände, um sie auf Jacobs Schultern zu legen, dann zog er ihn kurzerhand in eine Umarmung.

Jacob rührte sich kein Stück. Erst als Etienne wieder von ihm abließ, schien er wieder in die Realität zurückkehren. Er lächelte, aber mir kam es falsch vor.

Doch ich hatte keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn Girard drehte sich mir zu. Kurz öffnete er den Mund, als wollte er etwas sagen, dann entschied er sich jedoch anders und nickte mir lediglich zu. Ich lächelte. Mehr Anerkennung brauchte ich nicht.
 
Caden trat vor und salutierte, indem er seine Hände auf seiner Brust kreuzte. „Mon Commandant. Ich fürchte, wir haben schlechte Neuigkeiten."

Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme brachte ihn dazu dem Sergent seine gesamte Aufmerksamkeit zu schenken. Er musterte ihn kurz, dann nickte er. „Wir sollten das drinnen bereden." Damit drehte er sich um und bedeutete uns, ihm zu folgen.

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Es dauerte fast zwei Stunden Girard zu erklären, dass die Nigreos wesentlich gefährlicher waren als der Orden bisher angenommen hatte und dass sie moderne Schusswaffen hatten. Wir erzählten ihm von den toten Ailés, den abgeschnittenen Flügeln, Cielo Knox und Jacobs Nachforschungen; dem Grund, weshalb er untergetaucht war. Lediglich die Pistolen, die in meiner und in Cadens Satteltasche lagen, sprach unser Sergent nicht an und auch den Verräter behielten wir für uns. In diesen Sachen konnten wir wirklich niemandem vertrauen.
 
Mein Bruder und ich standen die ganze Zeit ein wenig abseits. Lex erzählte seine Geschichte zwar selbst, sonst hielt er sich jedoch zurück. Ab und zu sah ich zu ihm und mir fiel auf wie er minimal den Mund zusammenkniff. So wie er es immer getan hatte wenn Jill anderen Leuten die perfekte Familie vorgespielt hatte. Aber auch Caden schien noch eine Spur kälter zu sein als sonst und ich erinnerte mich daran, dass Jules mir erzählt hatte, dass er ein Problem mit Girard hatte.
 
Doch heute war nicht die Zeit sie darauf anzusprechen. Der Commandant hörte sich alles genau an und je länger wir sprachen, desto tiefer wurden die Sorgenfalten auf seiner Stirn. Er gab zu, dass er schon länger von den Mutationen wusste, weil er den Kadaver hatte untersuchen lassen. Bisher wussten jedoch nur die höchsten Ordensmitglieder von der neuen Limb-Rasse. Sie hatten einige Offiziere damit beauftragt nach den Züchtungen zu suchen, wir waren ihnen jedoch zuvor gekommen. Nachdem wir fertig berichtet hatten, versprach er uns, sich sofort darum zu kümmern, dann entließ er uns.
 
Einige Ailés hatten unsere Pferde bereits in den Stall gebracht, unsere Satteltaschen lagen vor der Tür. Doch wir hatten keine Gelegenheit sie in unsere Zelte zu bringen, denn einige Ordensmitglieder, die mit Lex, Jules und Caden zusammen ausgebildet worden waren, erwarteten meinen Bruder bereits. So kam es, dass wir den restlichen Tag im Speisesaal verbrachten und mit der Hälfte des Lagers Jacobs Wiederauferstehung feierten.

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