Vier

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Zwei Tage später saß ich mit Tante Jill am Esstisch und wir schwiegen uns wie immer an. Wir hatten uns so gut wie nie etwas zu sagen und wenn wir mal sprachen, rügte sie mich für irgendetwas. Vor zwei Tagen war es mein Verhalten Caden Milani gegenüber gewesen, morgen würde sie mich zur Schnecke machen, weil ich zu lange duschte und die Wasserrechnung zu hoch werden würde. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, ihr zu erzählen, dass Caden ein Ailé war. Dann hätte sie ihre Meinung über den „anständigen, jungen Mann" sicher geändert. Aber letztendlich hatte ich es doch gelassen.
 
Als wir fertig waren, schob sie mir jedoch die Tageszeitung über den Tisch und zeigte mit ihrem dürren Finger auf die Titelseite.

„Mord am Carrey-Waldweg - Ailés töten brutal unschuldigen Menschen"

Ich hatte mich schon gewundert, wann die Presse wohl Wind davon bekommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis so ein Artikel erschien. Das letzte Mal hatte es nur einen halben Tag gedauert. Vor zwei Wochen war keine zwei Straßenecken weiter ein älterer Mann brutal ermordet worden. Ein menschlicher Veteran, für dessen Ableben ebenfalls ein Ailé verantwortlich gemacht worden war, obwohl es keinerlei Hinweise auf den Täter gab. Tante Jill hatte geschimpft wie ein Ölfink, eine limb'sche Vogelart mit extrem lautem Gezwitscher und einem Federkleid, das schillerte wie eine Ölspuren auf Asphalt, als sie seinen Namen und sein Foto in der Zeitung gesehen hatte. Dass in diesem verfluchten Viertel niemand mehr sicher wäre. Einen Umzug konnten wir uns jedoch nicht leisten, weshalb uns wohl nichts anderes übrig blieb, als hier wohnen zu bleiben.
 
Kurz überflog ich den Text unter dem Bild, auf dem der in den Waldweg ragende Baumstamm zu sehen war. „Es ist nicht sicher, ob es ein Ailé war", meinte ich dann zu Jill.

Sie schnaubte belustigt. „Natürlich war es eines dieser Biester. Der arme Mann hing immerhin fünf Meter über der Erde."

Ich schwieg. Es gab zwar auch andere Weg, das zu bewerkstelligen, aber das behielt ich für mich, da eine Diskussion mit Tante Jill keinen Sinn hätte. Ich würde so oder so verlieren. Selbst wenn ich recht hätte.

Außerdem wollte ich die Ailé nicht in Schutz nehmen. Das Problem war, wenn man halb Mensch halb Limb war, dass man über keine Seite herziehen konnte als wäre sie etwas schlechteres. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob das ein schlechtes Nebenprodukt war, da man gezwungen war, beide Seiten anzuerkennen. Wenn jeder diese Sichtweise hätte, gäbe es die Abneigung der zwei Spezies füreinander vielleicht gar nicht.
 
Ich nahm unsere Teller, räumte sie ab und begann, die Küche sauber zu machen. Der Artikel hatte mich nur an die Entscheidung erinnert, die ich noch zu treffen hatte. Sie quälte mich jetzt seit zwei Tagen und die Zeit machte es nicht leichter, wie ich ursprünglich gehofft hatte. Vor ein paar Tagen hätte ich das Angebot sofort und ohne zu zögern abgelehnt, aber es gab etwas, was Caden gesagt hatte, das mich hatte stutzig werden lassen. Seitdem wog ich immer und immer wieder die beiden Möglichkeiten miteinander ab.
 
Beim Orden der Ailés würde ich versorgt werden und könnte nahezu mein ganzes Geld meiner Tante schicken. Ich würde ihr ein gutes Leben ermöglichen und selbst müsste ich endlich nicht mehr das elendige Dasein fristen, das ich so sehr hasste. Ich hatte es satt jeden Tag herumgeschubst und verachtet zu werden, satt jemand zu sein, an dem beide Parteien ihren Frust auslassen konnten. Zwar war es harte Arbeit, eine Ailée zu werden, dafür wurde man aber auch hoch angesehen. Nur, war ich wirklich dazu bereit, mich dafür in den Dienst der Limbs zu stellen, wegen denen mein Vater und mein Bruder tot waren?
 
Aber da war noch etwas anderes. Eine böse Vorahnung stieg in mir auf, wenn ich mich an die Leiche erinnerte. Es ging nicht nur darum, ob ich mich von ihnen ausbilden ließ oder nicht, es ging um meine Zukunft. Ich war halb Limb, es würde ein weiterer Krieg kommen und in diesem Augenblick musste ich wählen, auf welcher Seite ich stand. Alleine der Gedanke daran machte mir Angst. Ich war noch jung, dumm und unerfahren, hatte keine Ahnung, was hinter den Mauern dieser Stadt vor sich ging, trotzdem musste ich eine Wahl treffen, die letztendlich womöglich über mein Leben oder meinen Tod entscheiden würde. Es war unfair, dass ich sie schon jetzt treffen musste, aber dann wurde mir klar, dass nicht jeder den Luxus hatte, wählen zu können.
 
Als ich in der Küche fertig war, ging ich in mein Zimmer und warf mich auf mein Bett. Stundenlang lag ich auf meiner Matratze und starrte die Decke an. Ich war nicht müde. Dazu war ich zu aufgewühlt. Je öfter ich das Angebot durchging, desto verlockender schien es zu werden. Sachlich betrachtet. Emotional hingegen sträubte ich mich gegen die Vorstellung, eine von ihnen zu werden. Und das, wie ich leicht beschämt feststellte, auch aus egoistischen Gründen. Ich wollte nicht so enden wie meine Familie. Ich hatte schlichtweg Angst davor, zu sterben.
 
Aber ausgerechnet jetzt sickerten wieder Cadens Worte in meinen Verstand. Er hatte mich als blind vor Hass bezeichnet. Jedes Mal, wenn ich eine Auseinandersetzung zwischen Menschen und Limbs mitbekommen hatte, hatte ich genau das gleiche gedacht. Dass beide Seiten blind waren und nur das sahen, was sie auch sehen wollten. Sie konnten die guten Seiten des jeweils anderen nicht erkennen, weil es einfacher war, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Ging es mir genauso? War ich auch zu sehr in meinem Hass gefangen, um dem Orden eine zweite Chance zu geben?
 
Das zweite war die Erwähnung, dass sich Dad und Lex für den Orden entschieden hatten. Sie hatten die gleiche Einstellung zu dem immer währenden Krieg zwischen den beiden Spezies gehabt wie ich, trotzdem waren zu den Ailés gegangen. Sie hatten etwas verändern wollen, versucht, die anderen davon zu überzeugen, dass man auch friedlich mit den Menschen leben konnte. Und sie waren in diesem Glauben gestorben; für diesen Glauben gestorben. Das war tatsächlich nobel, ich wusste nur nicht, ob ich das könnte. Würde ich für jemand anderen sterben? Für etwas sterben, das größer war als ich? Ich bezweifelte es.
 
Mein Blick fiel auf das Bild auf meinem Nachttisch. Die beiden fehlten mir so sehr, dass es mir noch immer die Luft abschnürte, wenn ich an sie dachte. Ich wusste, dass sie gewollt hätten, dass ich ein besseres Leben führte und mich nicht von der Trauer um sie davon abhalten ließ, das zu bekommen, was ich wollte. Aber was wollte ich? Eine bessere Zukunft als die, die ich gerade in Aussicht hatte? Eine Aufgabe? Antworten? Antworten. Lex Tod lag immer noch im Dunkeln. Ich wusste gar nichts darüber, wie er gestorben war und der Orden hüllte sich über die Umstände seines Todes in Schweigen. Ein weiterer Grund, warum ich sie so hasste. Sie verwehrten mir die Antworten, die ich so dringend brauchte. Würde sich etwas daran ändern, wenn ich einer von ihnen war?
 
Ich presste mir die Fäuste an die Schläfe. Diese verfluchte Angebot zerriss mich förmlich. Sollte ich bei den Menschen bleiben, die mich wegen einem dummen Gen verurteilten und behandelten als wäre ich wertlos, oder entschied ich mich für einen Orden, für den sich auch schon mein Vater und mein Bruder entschieden hatten? Ich schlug die Augen auf. Dad und Lex waren zu den Ailés gegangen, weil sie davon überzeugt gewesen waren, dass es das richtige war. Zwar vertraute ich weder Caden Milani noch dem Orden, doch ich vertraute auf ihr Urteilsvermögen. Und vielleicht hatten sie in den Ailés etwas gesehen, was mir bisher verborgen geblieben war. Plötzlich schien mir die Entscheidung gar nicht mehr so schwer.
 
Ruckartig setzte ich mich auf. Es war bereits mitten in der Nacht, trotzdem stand ich auf und begann, meine wenigen Sachen zusammenzusuchen. Wenn ich noch länger grübeln würde, würde ich mich vielleicht umentscheiden und ich wusste, dass ich das für immer bereuen würde.

Ich warf einige Klamotten in eine Tasche, legte das Bild darauf und stopfte anschließend noch. meine Zahnbürste zwischen meine Hoodies. Mehr besaß ich nicht, mehr brauchte ich nicht. Schließlich blieb ich noch einmal im Türrahmen stehen und warf einen letzten Blick auf mein kleines Zimmer. Das Bett, mit der harten, durchgelegenen Matratze, deren Federn einem in den Rücken drückten, der Spiegel, der einen gewaltigen Riss hatte, sodass man froh sein konnte, wenn man sich noch darin sehen konnte, der alten Schrank mit den knarzenden Tür und der kleinen Schreibtisch inklusive des wackeligen Stuhls. Das war mein Leben... gewesen. Ich wusste nicht, ob ich es vermissen würde, aber ich würde es herausfinden.

Letztendlich schloss die Tür. Die Geste hatte etwas endgültiges.
 
In der Küche legte ich mein komplettes zusammengestohlenes Geld und einen Zettel auf den Tisch, auf dem neben dem Zeichen der Ailé lediglich „Goodbye" stand. Mehr als das war ich Jill nicht schuldig. Das und das Geld. Das musste reichen. Vorhin hatte ich ihr zum ersten Mal seit Jahren eine gute Nacht gewünscht. Es war meine Art gewesen, mich von ihr zu verabschieden, denn ich würde genauso wieder verschwinden, wie ich in ihr Leben getreten war: Plötzlich und ohne Vorwarnung.
 
Draußen war es kühl und der Wind hatte noch zugenommen. Er zerrte an meinen Haaren und ich zog mir die Kapuze tief ins Gesicht. Ich ging die zwei Stufen von der Haustür des Mehrfamilienhauses herunter und blieb stehen. Ich hatte mich nicht getäuscht, ansonsten wäre ich zugegebenermaßen ziemlich planlos gewesen. „Ich bin nicht käuflich", stellte ich klar, ohne mich umzudrehen, „Ich tue das hier für meine Tante und um meines Bruders und meines Vaters Willen."

Caden sagte nichts, sondern stieß sich nur von der Wand ab, an der er mit verschränkten Armen gelehnt hatte. Seine Flügel lagen angewinkelt hinter ihm und er hatte nicht mal versucht, sie zu verstecken. Niemand, der auch nur den Bruchteil einer Hirnzelle besaß, wagte es, sich mit einem Ailé anzulegen. 
 
Neben mir blieb er stehen. Keine Ahnung, wie er gewusst hatte, ob und wann ich sein Angebot annehmen würde. „Ist das alles?", fragte er mit einem Blick auf meine relativ kleine Sporttasche.

„Ja."

Er zog etwas aus seiner Hosentasche und kurz darauf flammten die Scheinwerfer eines Autos auf, das auf der anderen Straßenseite geparkt war. Er ging darauf zu und setzte sich hinter das Steuer.

Ich folgte ihm, ließ mich auf den Beifahrersitz gleiten und warf meine Tasche auf die Rückbank. Seit Jahren war ich nicht mehr in einem Auto gesessen. Früher hatte Dad zwar ein Auto besessen, aber nach seinem Tod hatte Jill es verkauft. Die Blechkisten auf vier Rädern waren das letzte Überbleibsel moderner Technologie und dementsprechend teuer. Für uns also unbezahlbar. Heutzutage benutzte man meistens Reittiere und vor allem der Orden der Ailés war für ihre guten Pferde bekannte. Vermutlich hatte ich deshalb erwartete, dass wir zu dem nächsten Lager reiten würden, aber offensichtlich reisten auch sie ab und zu gerne luxuriös.

Als ich mich anschnallte, fiel mein Blick auf seinen Rücken. Seine Flügel wurden von seinem Gewicht in die Rückenlehne gepresst und ich konnte mir einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. „Sieht ungemütlich aus", bemerkte ich.

Er warf mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu, blieb aber weiter stumm und startete dafür den Motor.
 
Ich begriff, dass er nicht viel reden würde, geschweige denn erzählen würde, wo es hin ging und schwieg deshalb ebenfalls. Ich lehnte meinen Kopf gegen das kühle Fensterglas und sah nach draußen, während das Auto immer mehr Fahrt aufnahm. Die Häuser zogen an mir vorbei und bald war es nur noch ein einziges, verschwommenes Bild aus Lichtern und Fassaden.

Irgendwann drifteten meine Gedanken ab und erst Cadens Stimme holte mich zurück in die Realität. „Schlaf ein wenig. Du wirst es brauchen."

Ich folgte seinem Beispiel und antwortete nicht. Trotzdem schloss ich die Augen und fiel in einen leichten Schlaf.

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt