Neunzig

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Ohne anzuklopfen stieß ich die Tür auf und trat ein. Es war mir vollkommen gleichgültig, ob ich eine Besprechung der Ranghöchsten stören könnte, mein Ziel war einzig und alleine Girard.

Tatsächlich saß er alleine hinter seinem Schreibtisch und sprang erschrocken auf als die Tür aufflog und gegen die Wand krachte. „Aria? Was zum...?"

Als er mein Gesicht sah, verstummte er. Doch alleine seine Stimme ließ eine neue Welle von Gefühlen über mich hinweg rollen und endgültig rot sehen.

Ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen, unsere derzeitige Situation oder Moral zu verschwenden, stürzte ich auf ihn zu und hielt ihm mein Schwert an die Kehle.

Girard war so überrumpelt, dass er sich nicht einmal wehrte. Wie paralysiert stand er mit dem Rücken zur Wand und starrte auf die glänzende Klinge, die nur wenige Millimeter von seiner Halsschlagader entfernt schwebte. Eine winzige Bewegung und er war dort, wo er meinen Vater hingeschickt hatte.
 
Im Nachhinein war ich mir ziemlich sicher, dass ich es getan hätte, wenn nicht in diesem Moment jemand in der Tür erschien.

„Aria!"

Cadens Stimme brachte mich zum Innehalten. Meine Hand, mein gesamter Körper zitterte, so viel Kraft kostete es mich, ihm nicht die Kehle durchzuschneiden.

„Aria!"

Ich reagierte nicht. Ich schaffte es nicht meinen Blick von Etienne Girards Gesicht loszureißen. Seine Augen waren geweitet. Was sich in ihnen spiegelte, war echte Angst. Er wusste, weshalb ich hier war.

„Aria." Cadens Stimme wurde sanft. „Was ist los?"

Er brüllte mich nicht an, fragte mich nicht, was zur Hölle in mich gefahren war und dass ich sofort mein Schwer fallen lassen sollte. Er wusste, dass ich einen guten Grund hatte.

Deshalb antwortete ich. „Er hat meinen Vater umgebracht", wisperte ich so leise, dass sogar der Flügelschlag eines Vogels meine Worte hätten übertönen können.

Dennoch sah ich im Augenwinkel wie Caden versteinerte. Und mit ihm mein Bruder, der gerade ebenfalls in den Raum gestürzt war.
 
„Er hat ihn umgebracht", wiederholte ich in der Hoffnung diese Tatsache greifbarer zu machen. Er war sein bester Freund gewesen, hatte uns aufwachsen gesehen, hatte mir beigebracht wie man mit einem Schwert umging. Wie konnte er nur? Wie hatte er uns das antun können?

„Etienne?" Mein Bruder fing den Blick des Commandant ein. Er war kreidebleich geworden. „Ist es wahr, was sie sagt?", wollte Lex wissen. Obwohl er geahnt hatte, dass Girard uns nicht die Wahrheit erzählt hatte, war diese Erkenntnis eine Schock für ihn.
 
Als er nicht antwortete, berührte ich seinen Hals mit meiner Klinge. Ich verletzte ihn nicht, aber die Kühle des Metalls brachte ihn dazu hart zu schlucken. Dank Romain Gagnier kannte ich das Gefühl. Ich wusste wie es sich anfühlte wenn man jedes Zucken des anderen fürchtete und bei jeder Bewegung damit rechnete, dass man in nicht mal einer Sekunde auf dem Boden lag und verblutete.

„Na los", forderte ich ihn durch meine zusammengebissenen Zähne auf, „Erzähl ihnen wie du den jungen Wächter umbringen wolltest und wie Dad sich vor ihn gestellt hat. Erzähl ihnen wie du dein Schwert in seinen Brustkorb gestoßen hast. Wie er seinen letzten Atemzug in dein Gesicht gehaucht hat, bevor er tot zu Boden gefallen ist."
 
„Aria."

Caden machte einen Schritt auf mich zu, aber als ich zuckte, blieb er wieder stehen.

Jacob hingegen schien sich kaum noch bewusst zu sein, dass ich gerade im Begriff war jemanden umzubringen. Alles, was er wahrnahm, waren unsere Worte.

„Es war ein Unfall", flüsterte Etienne. Es war ein Geständnis, aber ich war keinesfalls zufrieden. Im Gegenteil. Es kostete mich alles, was ich hatte, um meinen Emotionen nicht freien Lauf zu lassen. Lediglich die Anwesenheit meines Bruders und Caden hielten mich davon ab mich selbst zu vergessen.

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt