Vierundneunzig

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„Bist du jetzt fertig mit deiner Machtdemonstration?", fragte Lex, aber in seiner Stimme schwang kein Vorwurf mit. Er wusste, dass das längst überfällig gewesen war. Natürlich hatte er sich erkundigt, was in seiner Abwesenheit alles passiert war. Er wusste wie schwer ich es vor allem während meiner Ausbildung gehabt hatte. Doch all das schien keine Rolle mehr zu spielen. Mit Maélys waren auch der letzte Rest meines Selbstmitleids gegangen.

„Bin ich", entgegnete ich und verdeckte das Abzeichen wieder mit meinem Umhang, „Außer natürlich du bestehst darauf. Ich könnte dich beispielsweise zum Tellerwäscher degradieren."

Er schüttelte den Kopf. „Schon gut. Es ist demütigend genug wenn meine kleine Schwester meine Verehrerinnen vertreibt. Eigentlich wäre das ja meine Aufgabe." Bei seinem letzten Satz warf er seinem besten Freund einen Seitenblick zu, den der geflissentlich ignorierte.
 
Glücklicherweise kam uns in diesem Moment Jules entgegen. Genau wie Caden schien er schon eine Weile auf den Beinen zu sein. Ganz im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder, der gähnend hinter ihm her schlurfte. Es wunderte mich nicht im geringsten. Wenn jemand angesichts einer aussichtslosen Schlacht gut schlafen konnte, war es Benson Farrow.

„Na endlich. Das Feuer ist beinahe schon wieder abgebrannt", meinte der ältere Ailé und ging voraus. Er trug eine zylinderförmige Dose bei sich, die bereits Rost angesetzt hatte. Sie sah aus als wäre sie aus irgendeiner Ecke gekramt worden, wo sie schon seit Jahren stand.

„Ich war vorhin auch auf der Suche nach euch", erläuterte Caden, nachdem ich ihm einen fragenden Blick zugeworfen hatte, „Wir wollen schließlich der Tradition entsprechen."

Ich war noch immer verwirrt, aber Lex schien zu begreifen. Seine Miene hellte sich auf. „Die Kriegsbemalung der Ailés", erläuterte er für mich, „Während des Krieges war es üblich sich vor einer Schlacht bestimmte Symbole auf die Haut zu malen."

Endlich fiel bei mir der Groschen. Auf jedem Bild, das in den Zeiten der großen Kriege entstanden war, war die Haut der Ailés mit weißen, verschlungenen Symbolen verziert. Diese Tradition ging auf die Indianer zurück, die damals unter anderem ihre Gegner verschrecken wollten. Daran angelehnt sollte die einheitliche Bemalung einschüchtern, in erster Linie sollte sie jedoch unsere Zusammengehörigkeit zeigen. Diese Symbole verbanden uns alle und erinnerten uns daran, dass wir nicht alleine waren.
 
„Woher hast du die Farbe?", fragte Lex an Jules gewandt. Ich wusste inzwischen, wo wir hingingen und war mir ziemlich sicher, dass das auf Cadens Mist gewachsen war.

„Von unserem Vater", antwortete der jüngere Farrow ihm und kletterte über den Felsen, der die kleine Klippe vom Rest des Lagers abgrenzte. Dahinter war ein kleines Lagerfeuer, das der feuchten Luft trotzte. Die Büsche verschluckten sein Licht, weshalb es uns nicht an die Nigreos verraten würde, aber der Vollmond machte es beinahe überflüssig. „Und der wiederum hat sie von seinem Großvater", fuhr Jules fort, „Er hat im letzten Krieg gekämpft und das hier in seiner Familie weitervererbt. Für den Fall, dass es jemand irgendwann mal brauchen sollte." Er machte eine Pause und sah hinunter auf die Dose. „Ich hätte nur nicht gedacht, dass wir das sein würden."

Ein Teil der Beklemmung kehrte zurück. Wir alle hatten Angst. Daran hatte ich keine Zweifel. Aber bevor sie Überhand nehmen konnte, setzten wir uns um das kleine Feuer. Das Meer hinter uns war still und lag wie ein Spiegel vor den Klippen. Als wüsste es, was uns allen bevorstand und bereitete sich seinerseits darauf vor.
 
Ein Ploppen lenkte meine Aufmerksamkeit zurück zu der kleinen Runde. Caden hatte Jules die Dose abgenommen und den Deckel mit seinem Dolch aufgehebelt. Sogar im Halbdunkeln leuchtete mir die weiße Flüssigkeit entgegen.

„Unglaublich, dass die noch flüssig ist", murmelte Benson, der zu meiner linken saß.

Der Adjudant hatte in der Zwischenzeit einen kleinen Stock gefunden und rührte in der dickflüssigen Farbe. Ein wenig unschlüssig sah ich sie an. Sobald sie getrocknet war, hielt sie angeblich mehrere Tage.
 
„Der Rangniedrigste beginnt", erklärte Jules.

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt