Drei

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Nachdem der Ailé gegangen war, hatte mir Tante Jill erstmal eine Standpauke gehalten. Was mir denn einfiele, einen Gast so zu behandeln. Ich hatte geschwiegen. Meine Erklärung hätte sie sich ohnehin nicht angehört. Das gleiche galt für meine blauen Flecken.
 
So kam es, dass ich abends ohne Abendessen in meinem Bett lag und die Decke anstarrte. Ich wusste nicht, was ich von seinem Angebot halten sollte. Warum sollten sie mich ausbilden wollen? War das ein schlechter Scherz? Wiedergutmachung? Das schlechte Gewissen kam spät. Lex war jetzt schon seit zwei Jahren tot. Aber warum dann? Warum ich? Es musste einen Grund geben, aber so sehr ich auch darüber nachdachte, ich konnte mir das nicht erklären.
 
Ich seufzte und drehte mich auf die Seite. Mein Blick fiel auf meinen kleinen Nachttisch, auf dem das Foto gestanden hatte. Nun lag es mit dem Bild nach unten auf der Platte. Mit einem weiteren Seufzen stellte ich es wieder auf, als mir ein kleiner Zettel auffiel, der zwischen Rahmen und Glasscheibe klemmte.

Ich zog ihn heraus und las: »Mitternacht, Carrey-Waldweg. Ich weiß, du willst den Grund wissen.«

Mir entwich ein kehliges Knurren, da es ihm tatsächlich gelungen war, meine Gedanken vorherzusagen. Trotzdem sah ich auf die Uhr. Kurz vor elf. Ich ärgerte mich darüber, dass ich überhaupt darüber nachdachte, dort hin zu gehen, aber auf der anderen Seite spürte ich die drängende Neugier. Ich überlegte noch ungefähr zehn Sekunden, dann stand ich auf und zog mich an. Vielleicht bekam ich endlich die Antworten auf die Fragen, die ich mir jetzt schon seit zwei Jahren stellte. Antworten, bezüglich des Todes von Lex.
 
Alleine die geringe Möglichkeit, sie zu bekommen, war ausschlaggebend genug, dass ich wenig später auf der dunklen Straße stand und in Richtung Stadtrand ging. Der Mond schien hell und es hatte aufgehört zu regnen. Trotzdem war es kühl und ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch. Der Carrey-Waldweg lag nicht mehr in der Stadt, sondern etwa einen drei Kilometer weiter und ich brauchte etwa eine halbe Stunde zu Fuß. Früher hatte Dad zwar ein Auto besessen, aber nach seinem Tod hatte Jill es verkauft. Die Blechkisten auf vier Rädern waren das letzte Überbleibsel moderner Technologie und dementsprechend teuer. Für uns also unbezahlbar.
 
Ich ging über die Felder, die zwischen den letzten Häusern des Viertels und dem Wald lagen, und kam schließlich zu dem Waldrand. Ein einzelner Weg führte hinein. Es war ein breiter Trampelpfad und man konnte ihn gut erkennen, da er sich von dem noch nicht so dichten Sträuchern abhob und wie ein großes dunkles Loch aussah, das alles zu verschlucken drohte. Mit zielstrebigen Schritten ging ich darauf zu und verschwand darin.
 
Der Waldboden war uneben und es roch nach feuchtem Laub. Das einzige Geräusch war der Wind, der durch die Blätter fuhr und meine eigenen Schritte. Nach etwa hundert Metern wurde ich plötzlich langsamer. Anfangs wusste ich selbst nicht so genau, warum. Es schien, als wäre mein Instinkt schneller als mein Verstand, denn erst als ich stehen geblieben war, wusste ich, was mich stutzig werden ließ. Es war der Geruch. Er hatte sich verändert und je länger ich darüber nachdachte, desto bewusster wurde mir, dass ich ihn heute schon einmal in der Nase gehabt hatte: Blut.
  In diesem Moment verfluchte ich meine Entscheidung, den Köder des Ailé geschluckt zu haben. Wer wusste, warum er mich um Mitternacht auf einen abgelegenen Waldweg gelockt hatte? Vielleicht hatten die Ailés ja beschlossen auch die letzte Lennox aus dem Weg zu räumen. Aus welchem Grund auch immer.
 
Plötzlich spürte ich, wie etwas auf meine Hand tropfte. Für Wasser war es zu dickflüssig und ein scheußlicher Verdacht kam in mir auf. Fast in Zeitlupe sah ich nach oben.
  Zuerst war es nur eine Silhouette, doch je länger ich hinsah, desto deutlicher wurden die Konturen. Ich war schon einmal hier vorbeigekommen. Es war Jahre her, aber ich konnte mich noch genau an den abgeknickten Baumstamm erinnern. Irgendetwas hatte die Fichte dazu gebracht, in der Mitte wie ein Streichholz abzuknicken. Die Baumkrone hatte auf dem Weg gelegen und war schon längst abtransportiert worden, nur der Stamm war noch dort. Er ragte etwas schräg in den Weg hinein, aber da er etwa fünf Meter über dem Waldweg war, hatte er niemanden gestört und war geblieben, wo er war.
 
Noch immer stand er dort, doch etwas hatte sich verändert. Auf den Holzsplittern, die in Richtung Himmel ragten und das Ende des Stammes bildeten, war ein Mensch. Die Splitter hatten sich brutal durch seine Brust gebohrt und Blut tropfte in eine Pfütze, die sich auf dem festgetretenen Waldboden angesammelt hatte. Seine Arme und Beine hingen schlapp an den Seiten herunter und sein Kopf knickte nach hinten weg, so dass es aussah als würde er in den Himmel starren. Sogar von hier sah ich, wie sich in seinen toten Augen der Mond spiegelte. Das weiße Mondlicht ließ die sowieso schon blasse Leiche noch gespenstiger wirken.
 
Schnell trat ich einen Schritt zurück um nicht noch mehr Blut abzubekommen und wischt den Tropfen von meiner Hand. Mein eigenes Blut gefror in meinen Adern und ich musste hart schlucken. Ich spürte, wie mein Magen zu rebellieren begann, beherrschte mich aber und war auf einmal sehr froh, dass ich den ganzen Tag kaum etwas gegessen hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte weg sehen, wegrennen, schaffte es aber nicht, meinen Blick von der Leiche loszureißen. Der Mann sah nicht älter als Dreißig aus und trug einfache Freizeitklamotten. Dass er ein ähnliches T-Shirt trug wie ich, machte die Sache noch ein wenig makaberer.
 
Ich hörte ein Knacken und fuhr schlagartig herum.

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt