Sieben

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Der restliche Tag verlief genauso. Laufen, kleine Pause, weiterlaufen. Zur Mittagspause bekamen wir etwas zu essen, was mir zumindest wieder etwas Energie lieferte. Nach einer Stunde ging es weiter.

Ich wusste selbst nicht genau, wie ich das durchhielt. Irgendwann kam man an einen Punkt, an dem es nicht mehr ging, aber sobald man den überschritten hatte, schaltete der Kopf ab und die Stunden liefen wie ein Film an einem vorbei, den man vorspulte.
 
Ich funktionierte nur noch und erst Yates Stimme riss die Leere aus meinem Kopf. Sie beendete das Training für heute und ich blieb stehen. Meine Kleidung klebte an meinem Körper, zwischen meinen Beinen war der Stoff meiner Jeans aufgescheuert und mein Shirt hatte Salzränder. Ich blieb stehen und versuchte, meinen Puls in den Griff zu bekommen. Ich konnte nicht mehr und war mehr als froh, dass es endlich vorbei war.
 
Die anderen Rekruten verließen bereits die Lichtung in Richtung ihrer Zelte und den Waschhäusern. Seit der Mittagspause beachteten sie mich nicht mehr und machten mir klar, dass ich nicht zu ihnen gehörte.

Doch gerade als ich ihnen folgen wollte, stellte sich mir Yates in den Weg. „Was machen Sie da, Lennox?"

Verwirrt blieb ich stehen und zeigte auf meine Kameraden. „Duschen?"

„Sie schulden mir noch eine halbe Stunde, schon vergessen? Und weil sie so oft ohne Erlaubnis stehengeblieben sind, ist daraus eine Stunde geworden."

Meine Schultern sackten nach unten. Ich war am Ende und eine ganze Stunde mehr war reine Folter.

Mein Entsetzen stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn meine Ausbilderin legte leicht den Kopf schief. „Außer natürlich Sie wollen aufgeben?"

Angesichts ihrer Provokation biss ich die Zähne aufeinander. „Nein, Major."

„Warum stehen Sie dann noch hier rum? Oder wollen Sie sich etwa beschweren?"

Ich funkelte Sie noch einen Moment an, dann kehrte ich auf den Pfad zurück und lief weiter. Wenn ich heute eins gelernt hatte, dann, dass man Yates nicht widersprach.
 
Ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber meine Kraftreserven waren endgültig aufgebraucht. Ich stolperte mehr als dass ich joggte und war so langsam, dass ich das Gefühl hatte, überhaupt nicht voran zu kommen.

Yates stand in der Mitte des Platzes und beobachtete mich, aber nach einer Weile schien ich sie zu langweilen. „Noch eine Dreiviertelstunde, Lennox! Wehe Sie denken auch nur daran, vor siebzehn Uhr stehenzubleiben!", hörte ich sie mir über das Rauschen meines Pulses zurufen, bevor sie sich einfach umdrehte und ging.

Vor Verblüffung wäre ich beinahe stehengeblieben und sah ihr ungläubig hinterher. War das ihr ernst? Ließ sie mich tatsächlich alleine?
 
Yates machte keine Witze, aber erst als ihre weißen Schwingen endgültig zwischen den Bäumen verschwunden waren, war ich mir dessen sicher. Sie ging tatsächlich. Mutterseelenallein lief ich meine Runde und mein Schweinehund meldete sich wieder. Wenn ich jetzt stehenblieb, würde es niemand jemals erfahren. Ich könnte behaupten, dass ich weitergelaufen war und mir konnte es egal sein, ob Yates mir glaubte oder nicht. Immerhin war sie selbst schuld, wenn sie mich nicht kontrollierte.
 
Trotzdem lief ich weiter. Etwas hinderte mich daran, stehenzubleiben: Trotz. Und Ehrgeiz. Ich wollte beweisen, dass ich mich von ihr nicht kleinkriegen ließ. Und selbst wenn es Yates vermutlich niemals erfahren würde, wollte ich mir das wenigstens mir selbst beweisen. Der Zeitpunkt, an dem ich hätte aufgeben sollen, war ohnehin seit Stunden vorüber.
 
Im Nachhinein hatte ich selbst keine Ahnung mehr, wie das durchgehalten hatte, aber mein riesiger Dickschädel war wohl ausschlaggebend gewesen. Die Minuten zogen sich wie Kaugummi und vor allem die letzten zehn Minuten waren die Hölle. Doch als ich das nächste Mal auf meine Armbanduhr sah, erlöste sie mich endlich. Augenblicklich gaben meine Beine unter mir nach und ich fiel in das Gras. Mein Herzschlag ließ meinen kompletten Körper beben und ich schnappte verzweifelt nach Luft. Von dem vielen Keuchen tat mein Brustkopf weh, aber das war kein Vergleich gegen meine schmerzenden Füße. Eine Schweißschicht hatten sich über meine Haut gespannt und ich hatte das Gefühl zu glühen.
 
Ich war am Ende und schaffte es kaum, mich auf den Rücken zu drehen, aber auf einmal entwich meiner Kehle ein beinahe hysterisches Lachen. Ich selbst konnte kaum glauben, dass ich tatsächlich durchgehalten hatte, und das erfüllte mich mit unglaublicher Genugtuung. Allerdings schaffte es nicht einmal dieser Adrenalinschub, die Ausgezehrtheit zu vertreiben. Für eine gefühlte Ewigkeit tat ich nichts anderes als in den Himmel zu starren und zu atmen. Erst als ich nicht mehr nach Luft japste, spürte ich wieder den brennenden Durst. Meine Kehle war staubtrocken, aber der Kanister schien auf einmal Kilometer weit weg. Alleine der Gedanke daran, dass ich aufstehen und die paar Meter hinlaufen musste, löste Widerwillen in mir aus. Doch letztendlich siegte das Verlangen nach der kühlen Flüssigkeit.
 
Langsam, beinahe in Zeitlupe, rappelte ich mich auf und kroch förmlich zu dem Kanister, der beinahe leer war, weil im Laufe des Tages immer wieder jemand hingegangen war und seine Flasche aufgefüllt hatte. Für mich jedoch reichte es noch und so kniete ich vor dem Hahn und ließ das Wasser meine Kehle herunterstürzen als wäre ich zwei Wochen lang durch die Wüste gewandert. Als nichts mehr in meinen Magen passte, drehte ich den Verschluss wieder zu und lehnte mich gegen den Kanister. Ich war völlig am Ende und das einzige, was ich im Moment wollte, war nichts tun. Doch ich bezweifelte, dass die Ailés begeistert sein würden, wenn ich hier einschlief, also nahm ich meine restliche Kraft zusammen und kam wieder auf die Beine.
 
Doch ich kam nichtmal in die Nähe meines Zeltes, denn kaum stand ich, spürte ich plötzlich einen bitteren Geschmack in mir aufsteigen. Meine Knie gaben nach, ich stützte mich mit den Händen auf den Boden und musste mich übergeben. Als es nichts mehr gab, das ich hoch würgen konnte, wischte ich mir über den Mund und schloss die Augen. Ich fühlte mich elend. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Selten war ich mir so alleine und verloren vorgekommen. Ich gehörte nicht hier her.

Allerdings war mir bewusst, dass es nichts brachte, in Selbstmitleid zu versinken. Erneut schaffte ich es irgendwie, mich aufzurichten und anschließend in das Waschhaus zu schleppen, wo ich mich mitsamt Klamotten unter den Wasserstrahl stellte, bevor ich weiter in mein Zelt kroch. Die Blicke, mit denen mich die Ailés auf dem Weg betrachteten, ignorierte ich geflissentlich, genau wie das leise Gelächter. Sie konnten mich alle mal. Ich war mehr als ausgelaugt. Wenn mir in diesem Moment jemand angeboten hätte, mich in mein Bett zu tragen, ich hätte ungeachtet meines Stolzes und ohne zu zögern, angenommen.
 
Letztendlich stand ich vor meinem Zelt und auf einmal sah es heimischer und gemütlicher aus als alles andere, das ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ich trat ein und blieb verwundert stehen. In der Zeit, in der ich weggewesen war, war jemand hier gewesen und hatte es hergerichtet. Meine Tasche stand noch genau dort, wo ich sie hinterlassen hatte und soweit ich das beurteilen konnte, hatte sie niemand auch nur angerührt. Dafür lagen auf dem Feldbett eine Bettdecke und ein Kissen, der Staub war weggewischt worden und auf dem Tisch war ein zusammengefalteter Satz frischer Kleidung. Darunter standen die dazu passenden Schuhe, daneben lag ein kleiner Zettel, auf dem „Falls Sie noch etwas brauchen, kommen Sie zu dem Haupthaus neben dem Speisesaal" stand.

Ich lächelte. Auch wenn es vielleicht gar nicht so gemeint war, hatte ich das Gefühl, dass es neben Etiennes Begrüßung das einzige war, das mit zeigte, dass ich hier willkommen war.
 
Ich zog den Reißverschluss meines Zeltes zu und sperrte den Rest der Welt dadurch einfach aus. Danach zog ich mir die nasse Kleidung aus und schlüpfte in frische. Seufzend setzte ich mich auf das Bett. Ich wollte nur noch schlafen, doch als ich mich auf das Kissen fallen ließ, pikte mich etwas in die Seite. Ich zog das weiße etwas zwischen den Stoff und dem Metallrahmen des Bettes hervor und mir stockte der Atem. Es war eine Feder, schneeweiß und um die dreißig Zentimeter lang. Sie gehörte keinem Tier, sie war von dem Flügel eines Ailés und instinktiv wusste ich, dass sie von Lex war.
 
Mit zittrigen Fingern strich ich über den Kiel. „Tja, hier bin ich, Bruder", murmelte ich leise und fragte mich, ob sich Jacob genauso gefühlt hatte wie ich, als er die Nachfolge von Dad angetreten hatte. Ich fragte mich, ob die anderen Kameraden ihn auch nicht hatten leiden können, aber ich bezweifelte es. Es war fast unmöglich, ihn nicht zu mögen.
 
Andächtig legte ich die Feder auf den winzigen Nachttisch, der neben dem Bett stand. Die Trauer bohrte sie wie ein Pfeil brutal in meine Brust und drohte, sie auseinander zu reißen. Ich vermisste ihn und Dad und wünschte, sie wären jetzt bei mir. Bei ihnen hatte ich nie das Gefühl gehabt, nicht zu wissen, wo mein Platz war. Sie waren immer für mich da gewesen und es war vollkommen egal gewesen, welches Bult in meinen Adern floss und welche Gene ich in mir trug. Sie hatten mich gelehrt, dass es zwischen Mensch und Limb keinen Unterschied gab und sie hatten keine Ahnung gehabt, wie sehr sie damit richtig gelegen waren. Denn keine Seite war besser als die andere. Die Ailé stellten sich zwar gerne als die Gerechten dar, die sich nur gegen die Diskriminierung der Menschen wehrten, doch die Wahrheit war, dass sie sich den Menschen gegenüber auch nicht tolerant verhielten.

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt