Zweiundachtzig

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Obwohl sie längst nicht mehr meine Ausbilderin war und ich inzwischen wusste, dass Camilla Yates lange nicht so unfreundlich und unbarmherzig war wie alle annahmen, ließ ich sie nur ungern warten. Auch, weil das etwas mit Respekt zutun hatte, von dem ich mehr als genug für sie übrig hatte.

Doch kaum war ich um die nächste Ecke gebogen, wurde ich aufgehalten. Mein Bruder stellte sich mir in den Weg und zwang mich dadurch stehenzubleiben. „Was wollte Girard von dir?"

„Ich wünsche dir auch einen schönen guten Abend, Brüderchen", entgegnete ich und wollte mich an ihm vorbeischieben, woran er mich jedoch hinderte.

„Ernsthaft, Aria. Was wollte er?"

„Mir sagen, dass Yates nach mir verlangt hat", sagte ich.

„Mehr nicht?"

Ich überlegte einen Augenblick, entschied mich aber dagegen ihm von der seltsamen Reaktion zu erzählen. Nicht, weil ich ihm nicht traute, sondern weil ich mir lächerlich vorkam. Immerhin hatte dieser Ailé mir nicht nur einen Ausbildungsplatz und damit die Chance auf ein gutes Leben innerhalb des Ordens gegeben und mir das Schwertkämpfen beigebracht, er hatte auch an der Seite meines Vaters gekämpft und war für Lex und mich das gewesen, was einem Onkel am nächsten kam. Trotzdem war mir die seltsame Kühle aufgefallen, mit der er Jacob begegnet war und die er inzwischen auch mir gegenüber aufwies und ich erinnerte mich an das, worum er mich gebeten hatte, kurz bevor wir zu der ersten Besprechung mit dem Général und dem Colonel gerufen worden waren. Noch immer hatte ich keine Ahnung, aus welchem Grund er mich gebeten hatte, mich von dem Commandant fern zu halten und langsam hatte ich seine geheimnisvolle Art satt.
 
Deshalb beschloss ich ihn einfach ganz direkt darauf anzusprechen. „Könntest du mir bitte endlich erzählen, welches Problem du mit Etienne hast?"

„Gar keins", wehrte er ab, „Ich will einfach, dass du ihm aus dem Weg gehst. Das ist alles."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Damit würde ich mich nicht noch einmal abspeisen lassen. „Vergiss es, Lex. Komm mir nicht wieder damit. Ich bin inzwischen 20 Jahre alt und muss von dir nicht länger beschützt werden. Ich denke, die letzten fünf Jahre sind dafür Beweis genug. Also erzähl mir bitte endlich, was hier los ist."

Mein Bruder seufzte und massierte sich die Nasenwurzel. „Du hast recht. Tut mir leid. Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass du nicht mehr meine kleine Schwester bist."

Ich lächelte und stieß ihn freundschaftlich in die Seite. „Ich werde immer deine kleine Schwester bleiben, Jacob. Aber ich bin jetzt erwachsen und du musst die Lasten dieser Familie nicht länger alleine auf deinen Schultern tragen."

Jacob war nunmal mein großer Bruder. Mir war klar, dass er sich immer für mich verantwortlich fühlen würde. Sogar mehr noch als andere Geschwister es tun würden. Doch ich war kein kleines Mädchen mehr. Was auch immer ihn beschäftigte, ich würde mit klarkommen und ihm vielleicht sogar helfen können.
 
„Es geht um Dad", sagte Lex schließlich und bedeutete mir weiterzugehen.

Ich runzelte zwar die Stirn, folgte ihm jedoch und gab ihm die Gelegenheit seine vage Aussage weiter auszuführen.

Bevor er allerdings weitersprach, sah er sich noch einmal um und senkte anschließend seine Stimme. „Ich wollte ich dir vorerst nichts davon erzählen, weil ich mir erst ganz sicher sein muss. Aber eigentlich habe ich den Verdacht schon länger und Caden–"

„Warte mal", unterbrach ich ihn, „Milani weiß davon?" Ich würde nicht behaupten, dass ich eifersüchtig war, aber es störte mich, dass er Caden eingeweiht hatte und mich nicht. Schließlich war ich seine Schwester.

„Ich musste ihn einweihen. Ich meine, er war damals dabei und hat gemerkt, dass ich mich Girard gegenüber anders benommen habe als sonst. Außerdem hat er unabhängig von mir den gleichen Gedanken gehabt."
 
Ich hob die Hand und er verstummte. „Ich komme nicht ganz mit. Könntest du mir einfach sagen, was für ein Verdacht das ist?"

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt