Ich spannte die Sehne meines Bogens und zielte. Es war schwerer, als ich am Anfang vermutet hatte und je länger ich die Scheibe fixierte, desto mehr zitterte ich. Schließlich ließ ich den Pfeil los und er blieb in der Scheibe stecken. Ich ließ den Bogen sinken und betrachtete zufrieden mein Ergebnis.
Yates hatte uns heute verkündet, dass jeder Ailé nicht nur eine, sondern mindestens zwei Waffen beherrschte. Ich erinnerte mich daran, dass Caden noch zwei Dolche in seinen Bracelets stecken hatte und mein Bruder hatte gerne mit zwei Schwertern gekämpft. In seinem Gürtel hatten immer noch ein Kurzschwert gesteckt.Ich hatte mich am Bogenschießen versucht und es hatte erstaunlich gut funktioniert. Dad und Lex waren für solche Dinge schon immer zu ungeschickt gewesen, ich hingegen hatte eine erstaunlich ruhige Hand, was ich mir vermutlich bei meinem „Hobby" als Taschendiebin angeeignet hatte. Zum ersten Mal seit ich hier war, hatte ich das Gefühl, dass mir etwas leicht fiel.
Doch die neue Disziplin im Training konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Lager eine gewisse Anspannung herrschte. Drei Tage war es her, dass uns die Mutationen während des Trainings angegriffen hatten und noch immer konnte niemand so recht sagen, was genau es gewesen war und vor allem wie das passieren konnte. Die Ratlosigkeit war beängstigend und der Druck entlud sich auf Etienne Girard als Commandant des Lagers. Das war auch der Grund, dass heute meine Nachhilfe ins Wasser fiel, obwohl er ohnehin der Meinung war, dass ich sie nicht mehr nötig hatte. Doch ich war Perfektionistin und würde vermutlich erst zufrieden sein, wenn ich Girard selbst geschlagen hatte.
Ich war es nicht gewöhnt, Freizeit zu haben, weshalb ich die Zeit, in der ich mich eigentlich mit Chloé Belrose und den anderen älteren Rekruten duellieren würde, auf dem Trainingsplatz. Chloé und ich waren inzwischen etwas wie Freunde geworden. Neben meinen männlichen Freunden, zu denen inzwischen auch die Farrow-Brüder gehörte, war sie mit ihrer offenen und vor allem unvoreingenommenen Art eine willkommene Abwechslung.
Ich zog einen weiteren Pfeil aus meinem Köcher und legte ihn an.„Meinst du nicht, dass dein vieles Training langsam an Besessenheit grenzt?", wollte Warren wissen, der sich auf einen Stein neben dem Platz, auf dem die Scheiben aufgestellt waren, gesetzt hatte.
„Nein. Aber sonst habe ich ja nichts zu tun", äußerte ich und ein weiterer Pfeil zischte durch die Luft.
Er schüttelte den Kopf.
„Du bist aber nicht mitgekommen, um mir das zu sagen, oder?" Warren hatte mir beim Frühstück gesagt, dass er etwas herausgefunden hatte und da man beim Training schlecht miteinander reden konnte und im Speisesaal zu viele Leute waren, hatte ich wohl oder übel bis jetzt warten müssen.
„Der Angriff auf uns war sicher kein Unfall."Ich sah ihn an. „Woher willst du das wissen? Nicht mal Girard weiß, was das für Viecher waren."
„Wird behauptet."
Ich ließ den Bogen sinken und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Du willst damit sagen, dass man uns anlügt?"
Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, die hohen Tiere wissen mehr als sie zugeben."
Ich musste seine Anschuldigung erstmal sacken lassen. „Und warum sollten sie das tun?"
„Keine Ahnung. Weil sie uns nicht beunruhigen wollen?"
„Also ich persönlich finde es beunruhigender nichts zu wissen. Außer–"
Ich verstummte, als ich ein Knacken vernahm. Es musste niemand wissen, was wir hier besprachen, weshalb ich den Bogen wieder anlegte und tat, als würde ich schon die ganze Zeit schießen.Kurz darauf kam jemand zwischen den Bäumen hindurch und ging hinter den Scheiben vorbei. Ich wusste nicht, ob Caden uns ignorierte oder tatsächlich nicht bemerkte, aber unwillkürlich biss ich die Zähne aufeinander. Die Worte, die er mir an den Kopf geworfen hatte, saßen noch tief und normalerweise hätte ich ihn einfach vorbeigehen lassen, da ich keine Lust hatte mit ihm auch nur ein Wort zu wechseln, doch in dem Moment fuhr ein Windstoß unter seinen Umhang und hob ihn ein wenig an. Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ich sah etwas grünes aufblitzen. Er zog seinen Umhang hastig wieder nach unten, aber es war zu spät. Ich hatte das, was neben seinem Schwert in seinem Gürtel steckte, bereits gesehen.
Eine heiße Nadel bohrte sich in mein Herz. Ich kannte dieses Grün. Sehr gut sogar. Jedes Schwert der Ailés war ein Unikat und meistens stimmte Gaspard es sogar farblich ab, damit es zu dem Besitzer passte. Auch bei Lex hatte sein Schwert perfekt seinen Charakter wieder gespiegelt. Die abgerundeten Kanten hatten seine Sanftheit symbolisierten und die spitzen Rauten, die zeigten, dass man ihn besser nicht unterschätzte, hatten ihn genau beschrieben. Ich hatte es oft bewundert und gleichzeitig hatte es mir Angst gemacht. Und diese ganz spezielle Farbe hatte sich für immer und ewig in mein Gedächtnis eingebrannt.
Doch das konnte nicht sein. Die Angehörigen der Ailés bekamen nach dem Tod eines Ordensmitgliedes sein Schwert vermacht. Dads Schwert hing in der Ehrenhalle der Ailés. Tante Jill hatte es nicht im Haus haben wollen, aber ich hätte nicht zugelassen, dass sie auch Lex Schwert ausschlug. Allerdings gab es dabei ein Problem. Es hatte kein Schwert gegeben. Es war genauso verschwunden wie seine Leiche. Zumindest hatte man mir das erzählt.
Wie zur Hölle kam es dann an Cadens Gürtel und warum wollte er es verstecken? Und vor allem, wie war er überhaupt an da rangekommen? Doch zuerst musste ich mir sicher sein, dass ich tatsächlich Lex Schwert gesehen und mich nicht getäuscht hatte. Und das ging nur, wenn er sich zu mir umdrehte.
Noch immer stand ich wie versteinert da. Die Sehne meines Bogens bis zum Zerreißen gespannt. Erst jetzt merkte ich, wie mir langsam die Kraft ausging. Ich ließ los und der Pfeil schoss los. Mit einem leisen Zischen flog er durch die Luft... an der Zielscheibe vorbei.
DU LIEST GERADE
Feather, Sword & Blood
FantasíaIm letzten Jahrhundert hat sich die Welt verändert. Eine Genmutation brachte neben den Menschen weitere Spezies hervor. Kriege, in denen nahezu das gesamte Wissen über moderne Technologie verloren ging, forderten über zwei Milliarden Leben und zerri...