Sechsundneunzig

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Erst ein brennender Schmerz an meinem Oberschenkel holte mich aus den Tunnel. Erschrocken langte ich an die Stelle und fühlte Blut. Ich brauchte eine Weile bis ich begriff, dass mich eine verdammte Kugel gestreift hatte. Und noch länger, um zu verstehen, dass sie aus dem Lager gekommen sein musste.

Keinen Wimpernschlag nachdem ich mich erneut auf die Dielen hatte fallen lassen, splitterte das Holz hinter mir. Genau an der Stelle, an der kurz zuvor noch mein Oberkörper gewesen war. Der Verräter. Niemand sonst, der meinen Tod wollen würde, hatte eine Pistole. Dummerweise konnte ich nicht sagen, von wo aus die Kugel gekommen war, weshalb mir nichts anderes übrig blieb als mich zurückzuziehen. Hier oben war ich ein viel zu leichtes Ziel, weshalb ich wohl oder übel auf den Boden zurückkehren musste.

Meine Muskeln beschwerten sich als ich zum Rand der Wehr robbte. Schon jetzt war das alles unglaublich anstrengend und ich ahnte, dass mich die Schlacht an meine körperlichen und seelischen Grenzen führen würde. Hinter jedem Baum, in jeder Ecke schien der Tod zu lauern und nur darauf zu warten, dass man einen Fehler beging oder einem die Kraft ausging. Er fraß sich satt, was die vielen Leichen bewiesen, die schon jetzt die Lichtung pflasterten. Ich war jedoch noch lange nicht bereit aufzugeben, weshalb ich den Bogen losließ und umständlich mein Schwert aus meiner Scheide zog, während ich zum Rand des Wehrgangs robbte und nach unten sah.

Unter mir war gerade Cyrus Lynch mit Rémi, Maélys treuster Begleiter, und Romain Gagnier dabei es zu dritt mit einer Mutation aufzunehmen. Der jüngere Ailé war verletzt, während der ehemalige Colonel kämpfte wie ein wildgewordener Stier. Plötzlich verstand ich, warum Mercier sich seine Art so lange hatte gefallen lassen.

Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick über das Gelände schweifen, aber noch immer konnte ich den Schützen nicht ausmachen, weshalb ich aufsprang und mich über das Geländer schwang. Dieses Mal bremste ich meinen Schwung nicht mit meinen Flügeln ab, stattdessen nutzte ich meinen gesamten Schwung und mein Körpergewicht, um mein Schwert in den Buckel der Mutation unter mir zu rammen.

Der Aufprall war härter als ich erwartet hatte und statt mich auf seinem Rücken halten zu können, wie ich es insgeheim gehofft hatte, drohte ich abzurutschen. Ich schaffte es gerade noch mich an dem Heft meines Schwertes festzuhalten, wodurch die Klinge noch tiefer in sein Fleisch schnitt. Wieder brüllte die Mutation und versuchte jetzt nach mir zu schnappen. Tatsächlich erwischte es mein Bein, allerdings ließ ich in diesem Moment los und verhinderte so, dass mein Fuß zwischen seinem Kiefer landete. Mit dem Rücken krachte ich gegen einen der Balken, die den Aufgang zur Wehr stützte, und blieb benommen liegen. Mein Hinterkopf hatte ebenfalls Bekanntschaft mit dem soliden Holz gemacht und für einige Sekunden verschwand die Welt hinter einem schwarzen Vorhang.

Als sich mein Sichtfeld wieder klärte, tauchte etwas vor mir auf und ich tastete hastig nach meinem Schwert, doch natürlich steckte es noch in der Mutation.

„Können Sie aufstehen, Colonel?"

Ich blinzelte, erst dann erkannte ich den Dox der Wächter. Er hielt mir seine Hand hin, die ich dankbar annahm und mich von ihm auf die Füße ziehen ließ. Anschließend drückte er mir mein Schwert in die Hand. Die Mutation von gerade eben lag einige Meter weiter und zuckte nur noch.

„Danke", meinte ich und war froh, dass sich mit meiner Sicht auch mein Verstand wieder klärte. Angewidert wischte ich mein Schwert an meiner Hose ab. Ich war ohnehin schon vollkommen mit Blut besudelt.

Auch Gagnier gesellte sich zu uns, allerdings nicht ohne die Umgebung aus den Augen zu lassen. „Wir müssen uns verdammt noch mal was einfallen lassen, sonst sind wir alle bald tot", sprach er das aus, was niemand wagte auch nur zu denken. Allerdings konnten wir diese Tatsache auch nicht einfach ignorieren.

„Es sind zu viele", stimmte ich zu und sah mich um. Von hier unten sah ich erst das gesamte Ausmaß der Schlacht. Es war ein einziges Chaos. Blut, Leichen, Verletzte. Das Grauen war allgegenwärtig. Doch ich zwang mich, die Hilferufe der Verletzten nicht an mich ranzulassen. Ich konnte ihnen nicht helfen. Nicht jetzt. Es brachte ihnen mehr wenn ich eine Lösung für unser Dilemma fand, die Wahrheit war jedoch, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte wie wir hier lebend wieder rauskommen sollten. Es war einfach zu viele Mutationen und selbst wenn wir irgendwie mit ihnen fertigwerden sollten, warteten vor dem Tor noch immer etwas über fünfzig Nigreos.

Glücklicherweise schien keiner der Anwesenden von mir zu erwarten, dass ich ein Wunder vollbrachte. Nicht einmal Romain Gagnier, der gerade dabei war den Biss an Rémis Oberschenkel provisorisch zu verbinden. Seine Handgriffe waren präzise, routiniert und ich wünschte, ich wäre genauso ruhig. Denn nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte und mir die Ausweglosigkeit der Situation bewusst wurde, überkam mich die Angst. Kalt kroch sie durch meine Glieder und ließ meine Knie weich werden. Ich musste mich bewegen, sonst würde sie mich in einen zitternden Feigling verwandeln.

Doch zusätzlich zu dieser Erkenntnis kam mir noch etwas anderes in den Sinn. „Mercier!", rief ich, „Ich muss sie finden."

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt