Zwölf

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Ich saß alleine auf einem Felsen der Küste. Die Klippe ragte über den Strand ins Meer hinaus und unter mir stürzten die nackten Felsen ins Wasser. Ab und zu spritzte die Gischt der aufschäumenden Wellen bis nach oben und kühlte mein Gesicht.
 
Yates hatte das Training irgendwann beendet und uns noch eine Stunde laufen lassen. Danach war ich endlich erlöst gewesen. Ich hatte mir meinen Rucksack geschnappt und war so schnell wie möglich verschwunden. Ich schämte mich für eine Leistung und immer wieder fragte ich mich, was Dad oder Lex wohl dazu gesagt hätten. Vielleicht hätten sie mich aufgemuntert, aber wahrscheinlich hätten sie ihre Enttäuschung nicht verbergen können. Ich hätte es ihnen nicht einmal verübeln können. Ich selbst war von mir enttäuscht.
 
Ich war den anderen aus dem Weg gegangen und hatte mich verkrümelt. In mein Zelt hatte ich nicht gehen wollen, weil dort die die Gefahr zu groß war, dass mich jemand fand, von dem ich nicht gefunden werden wollte, also war ich stattdessen hier her gekommen.

Einem Monat nach dem Beginn der Ausbildung hatte ich angefangen, nicht mehr den ganzen restlichen Tag nach dem Training durchzuschlafen und mich auf dem Gelände ein wenig umgesehen, wobei ich auf diesen Platz gestoßen war. Er lag in der Nähe von Gaspards Schmiede, doch die Felsspitze, auf der ich saß, wurde von einigen Felsen verdeckt, an die der Wald angrenzte. Sie waren von Moos überzogen und ungefähr so groß wie ich, weshalb man mich nicht sehen konnte, wenn ich saß. Das hier war zu meinem Lieblingsplatz geworden und ich kam immer hier her, wenn ich meine Ruhe haben wollte oder mich das Camp und die ganzen Ailés mit ihren feindseligen Blicken zu erdrücken zu schienen. Also eigentlich ziemlich oft.
 
Ich ließ meine Beine über dem Abgrund baumeln und hörte dem Rauschen der Wellen zu, die gegen die Küste schlugen. Das Meer war heute unruhig und der Himmel war grau. Die Wolkendecke zogen sich träge darüber und ließen keinen einzigen Sonnenstrahl durch. Es passte perfekt zu meiner Stimmung – oder zog mich noch mehr herunter, keine Ahnung. Ich war frustriert, dass das heute nicht so gelaufen war, wie ich es gerne gehabt hätte und wütend über meine eigene Inkompetenz. Ich war noch ungeschickter mit dem Schwert umgegangen als alle anderen. Die einfachsten Dinge schienen für mich unmöglich zu sein und Maélys Morins Beleidigungen hatten es alles andere als besser gemacht. Es gab kaum etwas schlimmeres als wenn man es jemanden heimzahlen wollte und gegen denjenigen verlor. Sie hatte mit mir gespielt und ich hatte rein gar nichts dagegen tun können. Sie war einfach zu gut.
 
Ich kratzte etwas Moos vom Felsen, zerrupfte es und ließ es hinunter in das Meer fallen, wo es genauso verloren waren wie ich mich gerade fühlte. Die Zweifel, ob ich hier hergehörte, waren heute so groß wie selten und ich stellte mir immer wieder die Frage, was ich hier überhaupt tat. Die anderen hatten ein klares Ziel vor Augen: Sie wollten um jeden Preis in den Orden aufgenommen werden. Nur ich irrte ziellos umher, nichtwissend was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte.
 
Gerade war ich dabei, an einem Stein herumzuspielen, der sich aus dem Felsen gelöst hatte, als mir ein Schlitz in dem Ärmel meiner Bluse auffiel. Ich schnaubte gereizt. Maélys hatte mich dort erwischt, allerdings hatte ihre Klinge nur den Stoff zerrissen. Ich wusste nicht, ob nur das ihre Absicht gewesen war, aber sie hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn ihre Klinge Blut geschmeckt hätte. Ich stemmte mich auf die Füße. Ich musste etwas tun, sonst würde ich noch den restlichen Tag hier sitzen und in Selbstmitleid zerfließen. Also ging ich zu Gaspards Schmiede, um mir Nadel und Faden zu holen und mich bei ihm zu bedanken.
 
Ich machte schon lange nicht mehr den Fehler und klopfte an.

Der große bärtige Mann stand wie immer hinter seiner Esse und klopfte auf einem glühenden Metallstück herum. Als er mich sah, hörte er allerdings auf und begrüßte mich freudig. „Kann ich etwas für dich tun, Aria?"

„Ich bräuchte Nadel und Faden", sagte ich und zeigte ihm den Riss.

„Bekommst du sofort."

Er ging zu einer Kommode und holte das heraus, worum ich gebeten hatte. Die Nadel sah zwischen seinen Fingern aus wie ein Haar und ich beeindruckt, dass er sie überhaupt greifen konnte. Dann bot er mit einen Stuhl an und ich setzte mich an den Tisch. „Heute war euer erstes Schwert-Training, richtig? Wie ist es gelaufen?"
 
Ich seufzte und nahm die Nadel. Eigentlich wollte ich lügen und behaupten, dass ich zwar noch ein wenig üben müsste, es aber schon ganz gut geklappt hat, doch ich konnte meinen Frust nicht länger in mich hineinfressen. „Furchtbar", zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen, „Ich glaube, ich bin die schlechteste Kämpferin, die der Orden je gesehen hat. Ich stellte mich völlig dämlich an."

Energisch versuchte ich, den dünnen Faden durch das Nadelöhr zu führen, was natürlich nicht klappte. „So schlimm kann es doch nicht gewesen sein", meinte Gaspard sanft.

„Erzähle das mal Yates. Sie schämt sich für mich."

Ein weiteres Mal verfehlte ich das Öhr und warf beides noch frustrierter als zuvor auf den Tisch.
 
Stur starrte ich auf die Tischplatte. „Ich werde die Ausbildung nie schaffen."

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Gaspard sich aufsetzte. „Untersteh dich, ans Aufgeben auch nur zu denken. Andernfalls hätte ich ziemlich viel Oxidium und noch mehr Zeit verschwendet."

Ich sah hinunter auf die Bracelets, die ich noch immer trug. „Warum hast du das überhaupt getan? Du wusstest, dass ich mir nicht mal sicher bin, ob ich überhaupt in den Orden eintreten will."

„Weil mich jemand darum gebeten hat, der felsenfest davon überzeugt ist, dass du es schaffen wirst. Und ich bin dessen Aufforderung nur zu gerne nachgekommen."

Ich sah ihn endlich an. „Wer?"

Er lächelte. „Das wirst du noch früh genug erfahren. Aber willst du diese Person wirklich enttäuschen?"

„Ich möchte niemanden enttäuschen, aber ich habe das Gefühl, dass ich genau das gerade tue. Ich bin eine Niete im Schwertkampf und Yates muss mir ständig unter die Nase reiben, dass mein Bruder und mein Vater zwei der besten Kämpfer des gesamten Ordens gewesen sind. Ich habe es so satt, mit ihnen verglichen zu werden, Gaspard. Und ich will keinen Vorteil den anderen gegenüber haben, nur weil ich die Tochter meines Vaters bin." Bei letzterem bezog ich mich natürlich auf meine besondere Ausrüstung.
 
Gaspard sah mich an. „Glaubst du, es ist entscheidend ob deine Bracelets aus Oxidium oder aus Eisen sind? Du hast ihnen gegenüber keinen Vorteil. Ich denke, das hast du heute gemerkt."

„Aber nur weil–"

„Jetzt hör mir mal zu, Aria. Ich sehe dich nicht als eine Lennox an, sondern als einzelne Person. Das Training heute wäre genauso gelaufen, wenn du mit Nachnamen Smith, Meier oder Moreau heißen würdest. Es mag sein, dass man viel von dir erwartet, aber das musst du, so schwer es auch sein mag, ignorieren. Sei einfach du selbst und versuche gar nicht erst, wie dein Bruder oder dein Vater zu sein, dann werden die anderen dich auch als Individuum sehen. Vielleicht brauchst du einfach ein wenig länger bis du mit dem Schwert warm wirst oder vielleicht machst du dir einfach zu viele Gedanken. Und die Bracelets waren ein Geschenk von mir an dich. Nicht an Aria Lennox, sondern an dich. Weil du eine der wenigen bist, die mich nicht als selbstverständlich ansieht."

Ich schluckte. Er sprach mir aus der Seele, trotzdem war es hart, das zu hören. Ich musste mir wohl eingestehen, dass ich mich selbst viel zu oft mit Dad und Lex verglich. Wie konnte ich von den anderen erwarten, das zu tun, was ich selbst nicht konnte?
 
Es war seltsam, dass ein Erwachsener so offen zu mir war. Ich konnte mir vorstellen, dass die meisten Gaspard als selbstverständlich ansahen, trotzdem war ich mir sicher, dass er sich darüber nicht beschwerte.

„Es ist okay, wenn man an sich zweifelt", fuhr Gaspard etwas weniger energisch fort, „Man darf fallen, aber das wichtige ist, dass man wieder aufsteht. Und ich bin mir nach wie vor sicher, dass du die Ausbildung mit Bravour bestehen wirst. Und soll ich dir sagen warum? Weil du hart arbeitest. Und das wird sich irgendwann auszahlen."

Ich war einige Sekunden lang still und dachte über seine Worte nach. Er war der erste, der mir Mut machte und ich hatte vergessen, wie gut sich das anfühlte. Vielleicht hatte ich genau das gebraucht.
 
Schließlich nickte ich. „Ich werde mein bestes geben", versicherte ich ihm, „Und vielen Dank für die Bracelets. Außerdem tut es mir leid, dass ich dachte, dass du das nur aus Mitleid für mich getan hast."

„Ist schon gut. Jeder hat mal einen schlechten Tag." Er zwinkerte mir zu. „Gefallen sie dir eigentlich?"

Schnell nickte ich. „Sehr."

Zufrieden lächelte er, nahm den Faden und schob ihn durch das Nadelöhr. „Lass dich nicht unterkriegen, Kleines."

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt