Einundsiebzig

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Erst als mir die kühle Frühlingsluft ins Gesicht prallte, kam ich endgültig wieder zu mir. Meine eigenen Worte hallten in meinem Kopf nach und ich fasste mir an die Stirn. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich recht hatte, trotzdem war es ein Fehler gewesen. Gagnier musste nur mit den Fingern schnippen und ich könnte alles verlieren, was ich mir in den letzten Jahren so mühselig aufgebaut hatte. Bestenfalls würde er mich degradieren, schlimmstenfalls zur Ausgestoßenen machen.
 
„Weißt du noch, was ich vor ein paar Wochen in dem Dorf über dein Temperament gesagt habe?", drang Cadens Stimme in mein Bewusstsein. Er war es gewesen, der mich gepackt und zur Tür hinaus gezogen hatte.

Als ich bemerkte, dass er noch immer meinen Unterarm festhielt, riss ich mich los. „Ach, Schnauze, Milani", fauchte ich.

„Am besten du vergisst es wieder", fuhr er unbeirrt fort, „Das da drinnen war ziemlich beeindruckend."

Lustlos lachte ich auf. „Das glaube ich dir sofort. Schließlich habe ich weniger als zehn Minuten gebrauch, um dafür zu sorgen, dass der Colonel mich hasst wie die Pest."

Sein verschmitztes Grinsen ließ die Wut in meinem Bauch erneut aufkochen, weshalb ich mich abwenden musste. Fand er es etwa lustig, dass ich gerade meine Karriere ruiniert hatte?
 
Doch meinen Bruder anzusehen, war nur bedingt besser. Gerade raufte er sich die Haare und starrte mich fassungslos an. „Hast du sie eigentlich noch alle, Aria? So kannst du doch nicht mit einem Colonel sprechen!"

Zu der Wut mischte sich Trotz. Ich kreuzte die Arme vor der Brust. „Warum nicht? Weil er einen höheren Rang inne hat? Hast du eine Ahnung wie egal mir das ist?"

„Ja, habe ich", entgegnete er giftig, „Ist kaum zu übersehen."

Ich kniff meine Augen zusammen. War das sein ernst? Fiel mir mein eigener Bruder gerade in den Rücken? „Was soll das jetzt bedeuten?"

„Du scherst dich einen Dreck für die Regeln innerhalb des Ordens", meinte er und sah mir direkt in die Augen, „Du magst dem Orden angehören, aber du weigerst dich vehement dagegen ein Teil davon zu werden. Du vertraust niemandem und stößt alle von dir."

Beinahe fiel mir die Kinnlade herunter. Er sprach von meinem Trupp; Cadens Trupp. Davon, dass ich aussteigen wollte. Dass ich meinem Trupp nicht vertraute. Verdammt, ich war an ihrer Seite geritten, hatte mit ihnen gegessen, neben ihnen geschlafen, hatte mit ihnen gekämpft. Was sollte ich denn noch alles tun?
 
„Was zum Teufel geht dich das überhaupt an?", zischte ich und merkte wie mich erneut die Wut zu überwältigen drohte. Er behandelte mich als wäre ich ein kleines Kind, dabei hatte er keine Ahnung. Er war nur eine Woche mit uns geritten.

„Weil ich mir Sorgen um dich mache, Aria! Du bist schließlich meine Schwester."
 
Die Worte waren wie Säure auf meinem ohnehin schon überreiztem Herz. Alles, was sich die letzte Woche in mir angestaut hatte, ballte sich in mir zusammen bis es unerträglich wurde und aus mir herausbrach.

„Ach ja?", schrie ich, „Und wo warst du die letzten fünf Jahre? Wo warst du als ich von Johnny Landon verprügelt wurde? Wo warst du als der Ladenbesitzer mich rausgeworfen hat, weil ich zur Hälfte Limb bin? Wo warst du als Jill mich wie Dreck behandelt hat? Hm? Wo warst du, Lex?"

Tränen liefen mir über die Wange, die ich fahrig wegwischte. Ich konnte nicht mal sagen wann ich angefangen hatte zu weinen. Meine Hände zitterten, so sehr bebte ich innerlich.

Und Lex tat nichts anderes als mich anzustarren.

„Genau", flüsterte ich schließlich, „Du warst nicht da."

Fünf Jahre lang hatte mein großer Bruder es nicht für nötig gehalten mir zu sagen, dass er noch lebte. Er hatte mich alleine gelassen. So sehr ich es auch wollte, ich konnte ihm das nicht einfach verzeihen. 
 
Als er sich noch immer nicht rührte, drehte ich mich um. Mit letzter Kraft unterdrückte ich den Drang zu rennen, während ich auf den kleinen Waldstreifen zuging, der die Zelte von den Trainingsplätzen, der Schmiede und dem Stall abgrenzte.

Feather, Sword & BloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt