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Dr. Frank hatte noch keine zufriedenstellende Antwort für Julia. Dass Emily sich erneut selbst verletzt hatte, war äußerst bedenklich und brachte alle bisherigen Überlegungen durcheinander. Herr Neumann könnte ein derartiges Verhalten offensichtlich unterbinden, wenn er Emilys Annahme bestätigen würde. Würde er als ihr neuer Besitzer auftreten, könnte er es ihr verbieten. Aber war das ethisch vertretbar? Dr. Frank stand vor neuen Fragen, deren Antworten niemand kannte. Sie wollte sich noch einmal mit den Eltern zusammensetzen, um zu einem Ergebnis zu kommen, das für alle tragbar war.

Doch Julia hielt die ganzen Gespräche kaum mehr aus. Sie musste etwas tun! Außerdem wollte sie gerne dem Schmerz der Eltern ausweichen. Deshalb fuhr sie aufs Polizeirevier, um sich über den Stand der Ermittlungen zu informieren und zu helfen, wo sie konnte.

„Es scheint aussichtslos", stöhnte Maike, die ihr wenig später an dem Schreibtisch gegenüber saß. Sie hatten gerade einen weiteren Bekannten von Jens Wagner befragt, ohne neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Jens Wagner war eine Sackgasse. So schien es zumindest nach bisherigem Ermittlungsstand. Er hatte keine Vorstrafen und niemand aus seinem Umfeld wollte etwas davon wissen, dass er in eine Entführung verwickelt gewesen war. Wagner war ein Einzelgänger gewesen, enge Freunde hatte er nicht wirklich gehabt. Seine Bekannten waren Arbeitskollegen oder Nachbarn, die Wagner oft nur flüchtig kannten.

Wie um alles in der Welt sollten sie Emilys Entführer auf diese Weise finden? Wagner war ihre einzige Spur.

„Wie sieht es mit seinen Konten aus? Keine auffälligen Zahlungen?", fragte Julia.

„Das haben wir längst überprüft", entgegnete Maike frustriert. „Der Kerl ist sauber. Zumindest lässt sich nichts finden. Falls es Zahlungen gab, dann auf ein Konto, das wir nicht kennen. Oder das Geld sollte erst eingehen, sobald er Emily abgeliefert hat – was natürlich nie geschehen ist. Das halte ich für am Wahrscheinlichsten."

Julia nickte. Damit hatte Maike vermutlich recht.

„Die GPS-Daten seines Handys und des Autos haben, wie du weißt, auch nichts ergeben. Sie hören auf diesem verfluchten Parkplatz mitten im Nirgendwo auf. Wir vermuten, dass dieser Parkplatz eine Art Übergabeort war. Dort hat Emily wahrscheinlich in Jens Wagners Kofferraum gewechselt. Aber es gibt keine Kameras in der Nähe, nichts, was uns weiterhelfen könnte. Das alles macht mich so unheimlich wütend! Emilys Entführer muss auf diesem Parkplatz gewesen sein. Er muss Emily dorthin gebracht haben. Gäbe es Kameras, hätten wir eine Chance, sein Autokennzeichen zu finden. Aber es gibt keine. Wir haben verdammt noch mal keine Anhaltspunkte. Nichts. Der Entführer ist ein Geist. Wir haben keinen blassen Schimmer, wer er ist."

Julia konnte Maikes Frust nur allzu gut verstehen. Ihr ging es genauso. In ihr brodelte die Wut. Die Wut, dass ein solch grausamer Mensch dort draußen unbescholten sein Unwesen treiben konnte und damit ernsthaft davonzukommen schien. Das durften sie nicht zulassen! Sie mussten zukünftige Opfer vor diesem Mistkerl beschützen. Sie mussten ihn finden, bevor ein weiteres Mädchen das durchlitt, was Emily durchgemacht hatte.

Elf Jahre Gefangenschaft. Elf Jahre geprägt von Regeln und Strafen. Elf Jahre, die ihr ihre komplette Kindheit genommen hatten.

Emily war am reinen Lebensalter gemessen vierzehn Jahre alt. Doch in ihrer Entwicklung hing sie weit hinterher. Da war sie in vielem sogar noch jünger als ihre kleine sechsjährige Schwester. Durch ihre Gefangenschaft und die damit einhergehende Unterdrückung war Emily im Inneren ein kleines Kind geblieben. Nur ihr Körper war gewachsen – wenn durch die Mangelernährung auch nicht ganz altersgemäß. Doch ihre emotionale und soziale Entwicklung entsprach nicht annähernd der einer Vierzehnjährigen. Alles, was Emily in ihrem Leben gelernt hatte, war zu gehorchen. Es war das Gebot, nach dem sie alles ausrichtete, was sie tat. Regeln der Selbstbestimmung kannte sie nicht. Sich selbst zu verwirklichen war ihr fremd. Ein soziales Miteinander geprägt von Respekt, Freundschaft oder gar Liebe spielte in ihrem Leben keine Rolle. Sie gehorchte. Und wenn sie das nicht tat, rechnete sie mit einer Strafe.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt