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Julia hatte die neue Information sofort an Maike weitergeleitet. Sie wussten nun endlich, was Emily in diesem Kofferraum zu suchen gehabt hatte. Der Grund war grausam, unmenschlich und zutiefst erschreckend, aber vielleicht half es den Ermittlungen weiter.

Emily war verkauft worden. Für viel Geld. Vermutlich hatte Jens Wagner das Mädchen zu dem Käufer bringen sollen und dabei den Unfall verursacht, der zu Emilys Rettung geführt hatte. Die Rettung, die sie selbst nicht als solche empfand.

Jetzt hatten sie auch die Erklärung für Emilys Verhalten Herrn Neumann gegenüber. Die Kleine glaubte, dass er der Mann war, an den sie verkauft worden war. Sie hatte tatsächlich noch immer nicht begriffen, dass sie gerettet worden war und keine Angst mehr haben musste. Für sie war das Krankenhaus nur ein ihr vermutlich unerklärlicher Zwischenstopp zu ihrem neuen – Besitzer. Es war schrecklich, dieses Wort überhaupt in Gedanken zuzulassen, aber es war wohl genau das, worum es hier ging. Emily wurde als Ware gehandelt und irgendwo dort draußen gab es einen Menschen, der auf sie wartete.

Einen Menschen, von dem Emily glaubte, ihn bereits gefunden zu haben. In Wirklichkeit wusste jedoch niemand, wer er war und ob er sich seine Ware womöglich noch holen wollte. Julia hatte eine Diskussion über einen Polizeischutz für Emily angeregt, die Maike nun zu ihren Vorgesetzten trug. Denn Julia wollte nicht das geringste Risiko eingehen, dass Emily etwas zustoßen könnte. Ihrer Meinung nach war Polizeischutz der einzig logische Schluss. Es blieb nur abzuwarten, ob das genehmigt wurde, denn so etwas kostete Geld und Ressourcen.

Leider hatte Julia keinen Einfluss auf die Entscheidung. Diese lag nun bei der örtlichen Polizei. Julia konnte nur hoffen, dass ihre Meinung erhört wurde. Sie würde es sich niemals verzeihen, wenn Emily während ihrer Anwesenheit zu Schaden kommen sollte.

Die drängende Frage darum, ob das Mädchen durch ihren Käufer noch in Gefahr schwebte, war allerdings nicht die einzige, die sich nach den neuesten Erkenntnissen stellte. Eine weitere beschäftigte alle Beteiligten schwer: Wie sollte Herr Neumann mit diesen Informationen umgehen? Wie sollte er sich verhalten?

Nachdem der arme Vater sich einigermaßen erholt hatte, sprachen sie ausführlich über diese neue Herausforderung. Dr. Frank legte alle Pros und Contras dar und die anderen bezogen dazu Stellung. Die zentrale Frage dabei war: War es zu rechtfertigen, Emily weiterhin in dem Glauben zu lassen, dass Herr Neumann der Mann war, an den sie verkauft worden war? Oder sollten sie das Mädchen darüber aufklären, dass sie sich irrte? Dass ihr Käufer noch irgendwo dort draußen war und Herr Neumann ihr leiblicher Vater war, vor dem sie keine Angst zu haben brauchte. Dass er ihr niemals etwas antun würde, weil er sie über alles liebte.

Es war schwierig, bei diesem Thema zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen.

„Wenn wir ihr erklären, wer ich bin, wird sie nicht mehr mit mir sprechen. Sie wird nicht mehr auf mich hören. All das, was wir versucht haben, zu nutzen, wird dann verloren sein", merkte der Vater berechtigterweise an.

Dr. Frank nickte. „Das stimmt. Allerdings wird sie vermutlich weniger Angst vor Ihnen haben. Momentan geht sie davon aus, dass Sie sie für jeden kleinsten Fehler bestrafen werden. Sie wartet nur darauf, dass Sie zurückkommen und ihr die Strafe zuteil werden lassen, die sie von ihrem Entführer kennt."

Betretene Stille folgte auf ihre Worte. Was Dr. Frank ausgesprochen hatte, löste in allen Anwesenden Beklemmung aus. Julia spürte geradezu, wie die Luft im Raum schwerer wurde.

„Es sei denn, wir können sie vom Gegenteil überzeugen, indem ich zu ihr zurückgehe und ihr beweise, dass ich genau das nicht tue. Dass ich ihr niemals wehtun werde", entgegnete Herr Neumann schließlich.

Emilys Mutter kämpfte während des kompletten Gesprächs mit den Tränen. Immer wieder war ein leises Schluchzen zu hören. Julia ertrug es kaum. Viel zu sehr erinnerte es sie an ihre eigenen Erfahrungen im Krankenhaus. An ihre Gespräche mit den Ärzten, die ihr nichts weiter hatten verkünden können, als dass ihre Tochter vermutlich sterben würde. Damals war sie weinend durch die Krankenhausflure geirrt. Nun war es Frau Neumann, die eine derart schwere Last zu tragen hatte, dass sie von ihr beinahe erdrückt wurde.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt