Frühling 2019:
Stefanie sitzt im Proberaum auf der Couch und beobachtet liebevoll ihren Kleinen, der sich immer wieder am Couchtisch oder am Klavierhocker aufzieht und ein paar Schritte macht, während er sich daran festhält. Er fühlt sich hier wie zuhause. Naja, es ist ja eigentlich auch sein zweites Zuhause. Sie haben bestimmt gleich viel Zeit hier im Proberaum mit ihm verbracht als in ihrer Wohnung. Nun wird es nicht mehr lange dauern, bis er ganz alleine seine ersten Schritte machen wird, denkt sie sich. Wie schnell er doch groß wird! Sie nimmt ihr Handy und geht näher an den Klavierhocker ran. Dort steht der Kleine, quietscht vergnügt, strahlt übers ganze Gesicht und wippt auf und ab. Stefanie macht ein kurzes Video, was sie in die Bandgruppe schickt. „Motti ist dann bald fürs Klavier zuständig" schreibt sie mit einem grinsenden Emoji dazu. Als sie verträumt dasteht und den Kleinen beobachtet, legen sich plötzlich zwei Arme um sie. „Na?" flüstert Thomas in ihr Ohr. Genau in dem Moment lässt der Kleine den Klavierhocker los und geht drei Schritte ganz alleine, bevor er sich jauchzend auf seinen Popo fallen lässt. „Ha...ha...Hast du das grade gesehen?" stottert Stefanie völlig überwältigt und zeigt auf den Kleinen. Dann sieht sie zu Thomas, dem die Tränen in den Augen stehen. „Und wir durften es beide gemeinsam miterleben" strahlt er übers ganze Gesicht. „Die ersten Schritte genau hier in unserem Proberaum – perfekter könnte es nicht sein" flüstert Stefanie immer noch völlig ergriffen.Thomas zieht sie noch enger an sich und küsst sie sanft. Währenddessen krabbelt der Kleine immer wieder zurück zum Klavierhocker, zieht sich dort auf, lässt den Hocker los und geht 3-4 Schritte. „Der Kleine hat eindeutig den Kampfgeist seiner Mutter" sagt Thomas stolz. In dem Moment fällt der Kleine wieder auf den Boden zurück. „Und die Tollpatschigkeit seines Vaters" fügt Stefanie trocken hinzu und bricht dann in lautes Lachen aus. „Na warte" ruft Thomas und beginnt Stefanie zu kitzeln. Der Kleine beobachtet kurz seine lachenden Eltern und krabbelt dann auf sie zu. Dann sitzt er mit großen Augen vor ihren Beinen und wartet darauf, hochgenommen zu werden. „Jetzt hast du deine Mama aber vorm Kitzelmonster gerettet" sagt Thomas schmunzelnd, als er den Kleinen hochhebt und sich alle drei aneinander kuscheln. Stefanie drückt erst dem Kleinen einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und hat dann auch noch einen für Thomas übrig. Als Thomas etwas später mit dem Kleinen spazieren geht, damit er seinen Mittagsschlaf bekommt, setzt Stefanie sich nachdenklich auf die Couch. Die Schritte des Kleinen lassen sie nicht los. Sie nimmt sich Zettel und Stift, um ein wenig Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Das waren die ersten Schritte von ihrem kleinen Sonnenschein, doch es werden hoffentlich noch viele weitere kommen. Sie notiert sich Stichwörter auf ihrem Zettel: Schritte – Lebensabschnitt, Entscheidungen, Hürden, Erfolge, Fehltritte, auf der Suche nach meiner Mitte. Sie ist ganz vertieft in ihre Gedanken, dass sie gar nicht bemerkt, als Thomas zurückkommt. Erst als er sich neben sie setzt und seine Hand auf ihren Oberschenkel legt, sieht sie auf. „Oh hey, ich hab dich gar nicht bemerkt. Schläft der Kleine?" sagt sie und lächelt Thomas an. „Klar, ich war nicht mal um die nächste Ecke, hat er schon tief und fest geschlummert. Eindeutig das Schlafverhalten seiner Mama" grinst er und erntet von Stefanie dafür einen leichten Boxer auf seinen Arm. „Aua" spielt er entrüstet, bevor er sie zu sich zieht und zärtlich küsst.
„Was schreibst du denn da?" fragt er neugierig. „Mir gehen die Schritte des Kleinen nicht aus dem Kopf. Ich hab eben darüber nachgedacht, was für Schritte wir eigentlich in unserem Leben alles machen. Jeder Tag, den wir leben, jede Hürde, die wir nehmen, jeder Erfolg, jeder Fehltritt, das sind doch alles Schritte. Irgendwie geistert mir da eine Idee für einen Song im Kopf herum, aber ich kann sie noch nicht so ganz fassen" erklärt Stefanie. „Du könntest ja mal alle Schritte aufschreiben, die für dich in deinem Leben bedeutsam waren. Dann basteln wir schon was daraus" sagt Thomas und holt sich gleich mal seine Gitarre. Währenddessen schreibt Stefanie ihre persönlichen Schritte auf: geboren 1984, kleine Straße, kleines Dorf, nie Luxus, aber immer Brot, Traktor fahren bei Vati aufm Schoß, bald erste Kratzer, Elternhaus kaputt, Ehe am Ende. Hier hört sie auf zu schreiben, weil sie vor lauter Tränen nichts mehr sehen kann. Zu sehr wühlen sie diese Erinnerungen auf. Thomas zieht sie zu sich in die Arme, als er ihre Tränen bemerkt. Er hält sie solange fest, bis sie sich wieder beruhigt hat. „Lass die Kindheit mal sein und hüpf ein bisschen weiter" ermutigt er sie, den Text wieder aufzunehmen. Also nimmt sie den Stift wieder in die Hand und schreibt: erste Kippe, erstes Mal verliebt, Ironic, Musik. Lächelnd wirft sie einen Blick zu Thomas, als sie sich an die Zeit erinnert, als das mit der Band begonnen hat. Wie dankbar sie dafür ist, dass das alles so gekommen ist. Auch wenn es viele Zweifel aus dem Umfeld gab, die Leute meinten, dass sie sich lieber was Solides suchen sollte. Sie sind stark geblieben und haben es gemeinsam durchgezogen. Sie weiß, was solide ist: diese Liebe, diese Höhen, diese Tiefen, diese Gang, diese Band, diese Fans, diese Familie. Thomas sieht sie fragend an. „Weißt du, ich musste grade dran denken, wie alle in unserem Umfeld anfangs daran gezweifelt haben. Die uns einreden wollten, dass das doch nichts Solides sei, was wir vorhaben mit der Musik. Doch ich hab festgestellt, dass bisher alles ganz gut war. Wenn ich zurück schau, war da eindeutig mehr Glitzer als Mist." Thomas stimmt ihr zu.
Dann wendet sich Stefanie wieder dem Zettel zu: raus aus der Schule, erste Kohle, erste Bude. Als sie das schreibt, lacht sie laut auf. Thomas wirft einen Blick auf das Geschriebene und stimmt in ihr Lachen ein. „Das waren definitiv alles Schritte – was für Schritte. Deine Wohnung, in die wir uns zu viert gequetscht haben. Das war was, aber ich möchte diese Zeit niemals missen" sagt er leise. Stefanie sieht ihn liebevoll an und verliert sich einen kurzen Moment in seinen blau-grauen Augen. Dann wendet sie sich noch einmal ihrem Zettel zu und schreibt: neues Leben unterm Herzen, jetzt seh ich dich, machst deine ersten Schritte – was für Schritte. Voller Stolz auf die ersten Schritte ihres Kleinen tropft eine Träne auf das Blatt Papier. Thomas hat mitgelesen, was sie geschrieben hat, und drückt ihr einen sanften Kuss auf die Schläfe. Stefanie schließt ihre Augen und legt ihren Kopf an Thomas Schulter ab. Beide genießen diesen Moment der Stille. Kurze Zeit später werden sie durch brabbelnde Laute aus dieser Zweisamkeit geholt. „Ich geh schon" murmelt Stefanie und streicht Thomas beim Vorbeigehen zärtlich über die Wange. Als sie sich über den Kinderwagen beugt, in dem der Kleine bis vorhin geschlafen hat, strahlen sie zwei riesengroße, blau-graue Augen an. Sie hebt ihn heraus und noch etwas verschlafen kuschelt sich der Kleine eng an seine Mama. Mit ihm am Arm geht sie zurück zu Thomas, der gerade etwas aufschreibt. „Na, ist dir auch was dazu eingefallen?" fragt Stefanie neugierig. „Und hoffentlich noch viel mehr, noch so viel vor. Noch so viel ungeschriebene Lieder im Ohr. Falls ich dir weh getan hab, verzeih' mir bitte – alles Schritte" liest Thomas vor, was er eben aufgeschrieben hat. „Eigentlich wär das doch auch ein guter Titel fürs neue Album – Schritte" überlegt Stefanie laut. „Gute Idee! Wir sollten Hans und Nowi gleich davon erzählen, wenn die beiden morgen vorbei kommen. Bin sehr gespannt, was sie dazu sagen" meint Thomas. Der Kleine ist nun richtig wach und krabbelt von Stefanie herunter. Gleich zieht er sich am Couchtisch auf und versucht wieder zu laufen. Arm in Arm beobachten die beiden voller Stolz ihren Sohn bei seinen nächsten Schritten.