Ich oder die Band

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„Ich dachte echt, das hätten wir hinter uns gelassen? Wieso fängst du schon wieder damit an?" ruft Thomas und sieht seine Freundin wütend an. „Ich weiß, dass ihr grade an einem neuen Album schreibt, aber deshalb musst du mich ja nicht komplett links liegen lassen. Du sitzt eh den ganzen Tag in eurem Proberaum, musst du da wirklich erst gegen 11 abends heimkommen?" Anna steigen die ersten Tränen in die Augen. „Anna, ich hab heute echt keinen Nerv mehr dafür. Ich hab dir schon hundert Mal erklärt, wenn wir gerade an einem Song dran sind, können wir nicht einfach um 16.00 Uhr Schluss machen. Das ist nicht so wie in einem Büro. Wir müssen unsre kreativen Phasen nutzen und da kann es auch manchmal spät werden. Ich möchte jetzt einfach duschen und ins Bett" murmelt Thomas, dreht sich um und verschwindet im Bad. Anna wischt sich die Tränen von den Wangen, lehnt sich ans Fenster und sieht in die Dunkelheit hinaus. Sie weiß, dass Thomas alles für die Band tun würde. Sie versteht das auch, die vier sind eben beste Freunde und kennen sich seit sieben Jahren. Außerdem haben sie sie total nett aufgenommen, bis auf Stefanie, die ihr anfangs sehr argwöhnisch gegenüber getreten ist. Anna hatte fast das Gefühl, als wäre sie eifersüchtig, als würde sie selbst in Thomas verliebt sein. Doch Thomas hat ihr erklärt, dass Stefanie immer eifersüchtig sei, bei allen drei Jungs. Anna hat Thomas letztes Jahr im Sommer kennengelernt, kurz nachdem das erste Album der Band rausgekommen ist. Sie kannte die Band Silbermond damals gar nicht, wusste auch nicht, wer Thomas war und vor allem hatte sie keine Ahnung, dass es so schwierig sein würde, mit ihm eine Beziehung zu führen. Fast ein ganzes Jahr war er mit der Band auf Tour gewesen. Sie hatten sich wohl immer ein, zwei Tage die Woche gesehen, aber sie hatte das Gefühl, dass er mit seinen Gedanken ständig bei der Musik war anstatt bei ihr. Doch sie hat das akzeptiert, sie hat sich eingeredet, dass das besser werden wird, sobald er wieder längere Zeit hier in Berlin sein würde. Aber sie hat sich wohl getäuscht. Sie sieht ihn fast noch seltener als zuvor, da er ständig im Proberaum hängt und an neuen Liedern arbeitet. Und trotzdem hat er ihr bisher immer das Gefühl gegeben, dass er sie lieben würde. Sie hat schon festgestellt, dass er nicht der Mann der großen Worte ist, doch er hat ihr ein Lied geschrieben. Er kann seine Gefühle nur durch die Musik ausdrücken. Wieder laufen ein paar Tränen über Annas Wangen, als sie an das Lied denkt.

In diesem Moment legen sich zwei Arme um sie. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien vorhin. Mir ist zurzeit einfach alles ein bisschen zu viel. Die Plattenfirma will so schnell wie möglich ein neues Album raus bringen und dieser Druck macht es nicht unbedingt leichter" flüstert Thomas und küsst sie sanft auf die Wange. Anna dreht sich in seinen Armen um und sieht ihn traurig an. „Ich versteh dich doch, Thomas...ich...ich hab nur manchmal das Gefühl, als würde es dich überhaupt nicht interessieren, wie es mir mit der Situation geht..." Thomas streicht ihr durchs Haar. „Es tut mir leid, Anna! Lass uns morgen Abend bei einem schönen Essen darüber reden, ja? Ich werde spätestens um 18.00 Uhr hier sein, dann kochen wir gemeinsam was und gönnen uns eine gute Flasche Wein, okay?" Anna nickt und küsst Thomas zärtlich, bevor sich beide ins Bett kuscheln und auch kurz darauf eingeschlafen sind.

Der nächste Tag im Proberaum verläuft sehr produktiv und die vier schaffen es, zwei Demos fertig aufzunehmen. Gerade arbeiten sie noch an einem dritten Song, als Thomas auf die Uhr sieht. „Scheiße!" ruft er und springt auf. „Was ist denn los?" fragt Johannes und sieht ihn überrascht an. „Ich...ich wollte um spätestens 18.00 zu Hause sein...jetzt ist es 19.34...Anna wird so sauer sein" erklärt er, während er hektisch alles zusammenpackt und schon zur Türe eilt. „Tut mir leid, Leute! Wir sehen uns morgen!" ruft er noch und fährt so schnell er kann zu Annas Wohnung. Als er die Tür öffnet, sieht er, wie sie gleich wie gestern Abend am Fenster steht und hinaus sieht. „Anna...ich..." beginnt er, doch sie unterbricht ihn sofort. „Spar dir deine Entschuldigung! Irgendwann zieht das nicht mehr, Thomas!" Thomas sieht sie zerknirscht an und wirft dann einen Blick in die Küche, wo der Tisch bereits für zwei Personen gedeckt ist, Kerzen und Wein darauf stehen und wenn er das richtig erkennt, sogar das fertige Essen schon am Herd wartet. Er geht zu ihr hin und will ihr die Hand auf die Schulter legen, doch sie geht sofort einen Schritt zur Seite. Mit verschränkten Armen sieht sie ihn an, ihr Blick ist durchzogen von Enttäuschung, Trauer und Wut. „Thomas, hör mich bitte einfach nur an. Ich kann das so nicht mehr länger. Du behauptest zwar, dass du mich liebst, aber..." Thomas unterbricht sie „Das tue ich doch, Anna! Bitte glaub mir!" Anna schüttelt den Kopf und spricht weiter „...in deinem Leben spiele ich immer nur die zweite Geige. Ja, die Band ist dir wichtig, die Band ist mehr als nur ein Job. Ich versteh das alles, aber die Liebe sollte doch trotz allem an erster Stelle stehen, oder?"

Thomas senkt seinen Blick. Er weiß, dass Anna recht hat, aber die Musik ist sein Leben. Er will versuchen es ihr zu erklären und sieht sie wieder an. „Anna...wir hatten mit unserem ersten Album einen Wahnsinns Erfolg. Doch gerade als junge Band muss man hart arbeiten, damit man etwas voranbringen kann. Ich kann dir nicht versprechen, dass es sich in den nächsten paar Jahren ändern wird. Ja, ich liebe dich und wenn du mich auch liebst, dann bitte ich dich, diese Zeit mit mir gemeinsam durchzustehen. Es geht ja nicht nur um mich, es hängen noch drei andere Leute dran, ich kann die doch nicht einfach im Stich lassen" versucht er das in Worte zu fassen, was ihm durch den Kopf geht. Anna sieht ihn entsetzt an. „Die nächsten paar JAHRE? Ist das dein Ernst, Thomas?" Eine Minute schweigen sich die beiden einfach nur an. Keiner weiß, was er sagen soll. Schließlich ergreift Anna wieder das Wort „Nein, Thomas! So nicht...du sagst, du liebst mich? Dann beweise es mir...du musst nicht jetzt sofort eine Entscheidung treffen. Nimm dir Zeit, darüber nachzudenken und dann sag mir, ob du dich für mich oder die Band entscheidest..." Thomas sieht sie verwirrt an. „Wie...was meinst du? In Bezug auf was soll ich mich entscheiden?" fragt er. „Ich oder die Band – entscheide dich für eines davon Thomas – beides zusammen funktioniert nicht" erklärt Anna nun etwas deutlicher, dreht sich dann um und geht in die Küche, um den Tisch wieder abzuräumen. Thomas steht einen Moment wie erstarrt am selben Fleck. Dann folgt er Anna langsam nach in die Küche. Er beobachtet sie beim Aufräumen. Erst als sie ihn ansieht, beginnt er zu sprechen. „Anna es gibt nichts zu ENTSCHEIDEN...die Musik und die Band gehört zu mir...das ist mein Leben...und entweder nimmst du mich, so wie ich bin mit allem drum und dran oder eben nicht. Eine Entscheidung gegen die Band wird es von meiner Seite aus NIE geben." Kurze Stille. „Ich werde jetzt meine Sachen zusammen packen und dann bin ich weg...ich...ich wünsch dir alles Gute, Anna" flüstert Thomas, bevor er die Küche verlässt.

Zehn Minuten später verlässt Thomas ein letztes Mal Annas Wohnung. Obwohl er das, was er Anna gesagt hat, keine Sekunde bereut, tut es trotzdem weh. Er hat sie geliebt...er liebt sie immer noch...Aber wenn sie das, was ihm am allerwichtigsten ist, nicht akzeptieren kann, dann ist sie auf gar keinen Fall die Richtige für ihn. Thomas überlegt, wo er nun hinfahren soll. Nach Hause in die gemeinsame Wohnung mit Johannes? Nein, er braucht jetzt seine Gitarre. Als er einige Minuten später die Tür vom Proberaum öffnet, blickt er in drei Gesichter, die ihm erstaunt entgegen blicken. „Ihr...ihr seid ja noch hier..." flüstert er und als er seine drei besten Freunde ansieht, kann er seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Stefanie läuft sofort auf ihn zu und nimmt ihn in den Arm. Kurz darauf legen auch Johannes und Nowi ihre Arme um ihn. Eine Zeit lang stehen die vier eng umschlungen mitten im Proberaum und Thomas lässt alle Gefühle raus. Als er sich wieder beruhigt hat, wischt er sich peinlich berührt die Tränen weg. „Tut mir leid...ich...ich wollte nicht so rumheulen" murmelt er. „Hör sofort damit auf! Es ist gut und wichtig, seine Gefühle rauszulassen" erwidert Stefanie „Und jetzt komm her und erzähl uns, was passiert ist!" Die vier setzen sich auf die Couch und Thomas erzählt, vor welche Entscheidung ihn Anna stellen wollte und was er ihr daraufhin entgegnet hat. Stefanie ist entsetzt darüber, was Anna von ihm verlangt hat. Johannes legt seinem Bruder einen Arm um die Schulter und sagt „Sei nicht traurig Thomas! Irgendwo wird die Richtige auf dich warten, die dich genauso nimmt, wie du bist – mit deiner Liebe zur Musik, mit uns drei Chaoten im Schlepptau..." „Und wer weiß, vielleicht ist sie näher als du denkst" fügt Nowi hinzu und keiner der vier ahnt zu diesem Zeitpunkt, wie recht er mit dieser Aussage hat.

Silbermond OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt