Unsichtbare Mauern

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„Steff, reicht's nicht schön langsam mal?" stöhnt Thomas, als Stefanie nun gefühlt auch den letzten Winkel des Proberaums mit Lichterketten behängt. „Jetzt stell dich nicht so an. Musst ja nicht hingucken, wenn's dich stört" erwidert Stefanie genervt, die gerade ein wenig waghalsig auf einem Stuhl balanciert, um die Lichterkette so hoch wie möglich zu befestigen. „Mir wär's lieber, du würdest mit mir an den Versionen für Sing meinen Song weiter arbeiten. Du bist dann wieder diejenige, die rumjammert, dass sie das nicht hinbekommt und die Hosen voll hat vorm Auftritt" beschwert sich Thomas. Empört schaut Stefanie zu ihm hin und will etwas darauf erwidern, als sie aufgrund ihrer schnellen Bewegung das Gleichgewicht verliert. Mit einem Poltern kippt der Stuhl um und Stefanie mit ihm. Zum Glück kann sie sich rechtzeitig abfangen. Nur am Knie spürt sie einen leichten Schmerz. Hier wird in den nächsten Tagen bestimmt ein blauer Fleck entstehen. Die Worte, die Thomas ihr grade an den Kopf geworfen hat, tun viel mehr weh. „Scheiße, Steff!" ruft dieser und kommt zu ihr gelaufen. Besorgt beugt er sich zu ihr hinunter und fragt „Hast du dir was getan?" Stefanie spürt das Brennen in ihren Augen. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, murmelt sie „Alles in Ordnung, lass mich in Ruhe!" Thomas hält ihr eine Hand hin, weil er ihr aufhelfen möchte, doch Stefanie schlägt sie weg und ruft aufgebracht „Geh einfach weg!" „Steff...es tut mir leid...ich wollte doch nur..." versucht es Thomas, doch sie lässt ihn nicht ausreden und schnaubt „Du hast grad vorhin deutlich gemacht, was du von mir denkst. Und jetzt lass mich in Ruhe und kümmere dich um deinen Scheiß!"

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, rappelt sie sich auf und humpelt in Richtung Küche davon. Beim Gehen spürt sie nun doch ein schmerzhaftes Ziehen im Knie. Sie hofft, dass das schnell wieder vergeht und sie sich nicht ernsthaft verletzt hat beim Sturz. Als sie die Küchentür hinter sich geschlossen hat, kann sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie setzt sich auf einen Stuhl, zieht das unverletzte Knie zu sich heran und kauert sich zusammen. Den Kopf in ihren Armen vergraben, schluchzt sie leise auf. Währenddessen stellt Thomas den Stuhl, mit dem Stefanie umgekippt ist, wieder auf und befestigt das lose Ende der Lichterkette an der Stelle, an der Stefanie es haben wollte. Die zwei weiteren, die noch auf dem Tisch liegen, hängt er seufzend dorthin, wo noch Platz ist. Er fragt sich, wieso sie sich in letzter Zeit so oft streiten. Normalerweise ist es Stefanie, die Dinge einfach raushaut, ohne drüber nachzudenken, doch heute wäre es wohl an ihm gewesen, zuerst zu denken und dann erst zu reden. Er weiß, dass seine Aussage ihr weh getan hat. Stefanie kämpft immer wieder mit ihren Zweifeln und er sieht es als seine Aufgabe, sie aufzubauen, ihr Mut zu machen und nicht, sie in ihren Zweifeln noch zu bestärken. Doch genau das hat er heute getan. Und dabei war in den letzten Wochen sowieso alles zu viel für sie. Der Sommer war anstrengend, neben der Tour auch die Aufnahmen fürs neue Album und die Singles, die sie schon herausgebracht haben. Nebenbei die Proben und Aufzeichnungen von The Voice of Germany, was sehr viel Energie von Stefanie gefordert hat. Kein Wunder, dass sie nach dem Finale erstmal krank geworden ist. Seufzend fährt sich Thomas durch sein Haar. Er weiß, dass sie momentan sehr reizbar ist und oft überreagiert. Das zehrt auch an seinen Nerven. Trotzdem hätte er ihr das grade nicht an den Kopf werfen dürfen. Langsam geht er zur geschlossenen Küchentüre. Er legt eine Hand an die Tür und lehnt seinen Kopf daneben. Seine zweite Hand lässt er auf der Türschnalle ruhen, ohne sie hinunter zu drücken. Er würde gerne zu ihr gehen, doch er weiß, dass sie ihn im Moment nicht sehen will.

Es zerreißt ihm das Herz, als er ihr leises Schluchzen vernimmt. „Steff..." krächzt er kaum hörbar. Mühsam schluckt er den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hat, hinunter. Vorsichtig löst er sich von der Tür. Er muss erstmal seinen Kopf frei bekommen. Deshalb schnappt er sich seine Jacke von der Garderobe und verlässt leise den Proberaum. Stefanie vernimmt ein leises Geräusch an der Tür. Sie hebt ihren Kopf und fixiert die Türklinke, doch es bewegt sich nichts. Wie schön wäre es, wenn Thomas einfach zu ihr kommen und sie in den Arm nehmen würde. Aber sie weiß genau, dass das nicht passieren wird. Zu oft hat sie ihn in solchen Situationen schon weggestoßen, weshalb er ihr den Raum gibt, den sie fordert, auch wenn sie ihn eigentlich gar nicht will. Sie fährt sich mit dem Ärmel ihres dicken Hoodies übers Gesicht, um die Tränen wegzuwischen. Als sie seufzend ihre Wange am Knie ablegt, geht ihr Blick in Richtung Kühlschrank. Dort hängen neben einer bunten Zeichnung ihres Sohnes ein paar Bilder von ihren Konzerten diesen Sommer. Da fällt Stefanie ein Bild auf, das sie bisher noch nicht dort gesehen hat. Sie steht auf und will zum Kühlschrank gehen, um das Bild genauer zu betrachten. Der Schmerz der dabei durch ihr Knie schießt, lässt sie laut fluchen. Sie hat gar nicht mehr dran gedacht. Humpelnd bewegt sie sich näher zum Kühlschrank. Sofort schießen ihr wieder die Tränen in die Augen, als sie das Bild aus der Nähe sieht. Sie hat keine Ahnung, wer von ihren Jungs das da aufgehängt hat. Es zeigt sie selbst in ihrem Geburtstagsshirt, mit strahlenden Augen und einem Lachen, das übers ganze Gesicht geht. Im Hintergrund ist Thomas zu sehen, der stolz und liebevoll seinen Blick auf sie gerichtet hat. Nachdem sie mit dem Finger sanft über das Foto gestrichen hat, betrachtet sie auch die anderen Bilder. Wie glücklich sie alle vier auf jedem einzelnen Foto aussehen. Sofort ist sie wieder mit dieser Dankbarkeit erfüllt, die sie bei jedem einzelnen Konzert im Sommer gespürt hat. Bild für Bild betrachtet sie und erinnert sich dabei an das jeweilige Konzert zurück, von dem es stammt.

Silbermond OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt