Verschwende deine Zeit

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Sommer 2003

Seit mehr als 3 Stunden proben die vier jungen Bautzener schon für ihren nächsten Auftritt, aber irgendetwas liegt heute in der Luft. Es läuft nicht so richtig. Schließlich ist es Johannes, der Älteste von ihnen, der seinen Bass zur Seite legt und in die Runde schaut. „Leute, lasst uns mal kurz zusammen setzen...ich...ahm...ich muss was los werden" erklärt er seinen Bandkollegen. Stefanie setzt sich im Schneidersitz auf den Boden, Nowi auf eine umgedrehte Bierkiste und die beiden Brüder lassen sich auf die alte Couch fallen, die sie in der Garage vom Schlagzeuger stehen haben. Drei Paar Augen ruhen abwartend auf dem Bassisten, der versucht, die richtigen Worte zu finden. „Ich...ich bin momentan sehr viel am Denken. Ich hab ja mein Studium jetzt abgebrochen...nun ja, ich habs ja auch nur als Übergangslösung gemacht bis Stefanie endlich mit der Schule fertig ist...aber jetzt kommen so viele Leute auf mich zu und fragen mich, wieso ich das gemacht hab. Ob ich wirklich mein Studium schmeiße, um es in der Musikbranche zu versuchen. Ich soll doch nicht meine Zeit mit so einem Unsinn verschwenden und lieber was Anständiges machen" erklärt er seine Gedanken. Stefanie schaut ihn verständnisvoll an. „Ich weiß, was du meinst! Mich fragen auch viele, was ich jetzt nach der Schule vorhab. Und wenn ich sage, dass wir nach Berlin gehen werden, um es mit der Musik zu versuchen, ernte ich nur entgeisterte Blicke...und die Aussage, dass ich nicht meine Zeit mit sowas verschwenden solle, hab ich auch schon mehrmals gehört" erzählt die Sängerin.

Der Schlagzeuger sieht die beiden fragend an „Denkt ihr denn selbst auch, dass es Zeitverschwendung ist?" „Auf gar keinen Fall" ruft Stefanie sofort, doch Johannes verzieht nachdenklich sein Gesicht. „Ich weiß nicht so recht...ich mein, wie hoch stehen die Chancen, dass wir's wirklich schaffen?" gibt er zu bedenken. „Nun ja, wenn wir's nicht versuchen, werden wir es nie herausfinden" meint sein Bruder „Vielleicht sind die Chancen gering – egal, wenn wir in ein, zwei Jahren merken, dass es nicht geklappt hat, können wir immer noch nach Alternativen suchen. Wir sind doch noch so jung. Haben wir eben ein paar Jahre verschwendet, wie's die Leute so schön sagen würden!" Nowi nickt eifrig „Du sagst es! Die Musik ist doch genau das, was wir lieben. Vielleicht haben wir keinen Erfolg, aber wir haben dann immerhin das getan, was uns Freude macht und was unsre Herzen erfüllt. Und ich glaub so eine Zeit ist sowieso nie verschwendet. Ich glaub eher, dass das ein gesellschaftliche Problem ist. Wenn man mal nichts tut, auf sich schaut, es sich gut gehen lässt oder eben Dinge tut, die man liebt, dann wird das gleich als Zeitverschwendung gesehen. Alle orientieren sich immer nur an Leistung, Geld oder Erfolg...aber das kann's doch bitte nicht sein! In welcher Welt leben wir denn?" „Genau, lass doch einfach mal den Moment genießen. Keiner von uns weiß, wann es zu Ende ist...manchmal vielleicht schneller als man denkt..." sagt die Sängerin mit gebrochener Stimme und senkt ihren Blick, damit niemand ihre Tränen sieht. Doch die drei Jungs wissen sofort wie es in ihr aussieht. Schließlich ist es erst ein paar Monate her, dass ihr Vater verstorben ist. Und auch wenn sie immer versucht die Starke zu spielen, die drei kennen sie schon zu gut, um ihr das abzukaufen. Thomas steht auf, um sich neben Stefanie auf den Boden zu setzen. Er legt seinen Arm um sie und sie schluchzt einmal leise auf. Beruhigend streicht er über ihren Rücken.

In den nächsten Minuten hängt jeder seinen Gedanken nach. Nur das leise Schniefen von Stefanie ist immer wieder mal zu hören. Schließlich wischt Stefanie sich mit ihrem Ärmel übers Gesicht, strafft die Schultern und sieht ihre Jungs entschlossen an „So, genug Trübsal geblasen. Lasst uns endlich wieder unsre Zeit verschwenden!" Das bringt auch den drei Jungs wieder ein Lächeln ins Gesicht und kurz darauf geht die Probe weiter. Als sich die vier am nächsten Tag wieder treffen, hat Thomas eine Idee. „Hört mal her! Mich hat das gestern mit dieser Zeitverschwendung irgendwie noch so beschäftigt...ich hätt da eine Idee für einen Song dazu" erzählt er aufgeregt. „Vom Text her bin ich mir noch nicht so sicher, aber die Melodie, das sollte irgendwas Leichtes, Lockeres sein. Ich hab da schon ein paar Melodien im Kopf" erklärt der Gitarrist und spielt gleich mal ein bisschen was davon auf der Gitarre an. Als er geendet hat, sieht er in drei begeisterte Gesichter. „Das passt gut!" sagt sein Bruder „Und wegen Text...hmm...haut doch mal raus, was ihr denkt, dass die Leute als Zeitverschwendung sehen." Stefanie lacht „Na definitiv das Nichtstun, sich einfach mal frei nehmen!" „Dabei geht die Welt davon auch nicht unter, wenn man sich mal ne Auszeit gönnt. Ich denk sogar, dass es wichtig ist, hin und wieder loszulassen, sich von dem frei zu machen, was einen stresst und einfach mal zu leben" wirft Nowi ein. Während die drei sprechen, schreibt Thomas eifrig mit. Nun meint er „Das klingt ja schon mal vielversprechend. Wie wär's wenn wir das Sprichwort einbauen: Was du heute kannst besorgen, das..." Da fällt ihm Johannes ins Wort „Das besorg dir lieber morgen!" Gleichzeitig brechen die vier in lautes Gelächter aus, bevor Nowi hinzufügt „...oder lass es einfach ganz!" Mit einem Grinsen im Gesicht notiert Thomas die Zeilen und ergänzt diese mit: Leg dich lieber noch mal hin und gib der Hektik keinen Sinn. Genieße einfach den Moment.

Die Jungs setzen sich an die Instrumente und Stefanie nimmt von Thomas den Zettel mit dem Text entgegen. Sie probieren gleich mal aus, wie der Text zu den Melodien von vorhin passt. Ziemlich schnell kristallisiert sich ein Refrain heraus. Den übrigen Text nehmen sie als Strophe. Doch nun sehen sich die vier etwas ratlos an. „Irgenwie fühl ich diese Strophe nicht so als Einstieg...da würd ich irgendwas andres noch davor nehmen" erklärt Thomas, während er leise auf der Gitarre zupft. Plötzlich hat Johannes eine Idee. „Die Leute glauben doch immer zu wissen, was gut für uns ist, was wir tun und lassen sollen. Und dabei versauern die doch jeden Tag aufs Neue in ihrem Alltagstrott" erklärt er seine Gedanken. Nowi klopft gedankenverloren einen Rhythmus auf der Snare. Auf einmal sieht er auf und meint „Wie wärs denn mit: Jeden Tag zur selben Zeit grüßt uns die Alltäglichkeit und wir sagen immer schön Hallo!" Nun ist es Stefanie, die den Text gleich notiert und auch Thomas greift Johannes Idee von vorhin auf. „Und überall kriegt man gesagt, was man tun und lassen darf. Doch darauf ham wir heut kein Bock" sinniert er vor sich hin. Nachdem Stefanie auch das aufgeschrieben hat, sieht sie ihre drei Jungs liebevoll an. „Wisst ihr, genau das will ich die nächsten Jahre machen! Mit euch in einem Proberaum sitzen, über Melodien und Texte nachdenken. Wir wissen, dass die Uhr tickt, doch genau deshalb sollten wir das machen, was uns gefällt. Es gibt so viel Unwichtiges, mit dem wir tagtäglich unsre Zeit vergeuden, da verschwende ich sie doch lieber mit dem, was ich gerne mache!" „Das kannst du auch gleich noch dazu schreiben" schmunzelt Thomas und nachdem sie Stefanies Worte in eine Form für einen Songtext gebracht haben, versuchen sie's gleich wieder mit der Musik. Eine Weile später sind die vier zufrieden mit dem, was sie da geschaffen haben. „Kommt, lasst uns den Abend jetzt noch mit Pizza und Bier verbringen, das ist auch eine super Möglichkeit, um Zeit zu verschwenden" sagt Johannes, nachdem sie die Instrumente zur Seite gestellt haben. Die vier schließen Nowis Garage ab und machen sich dann Arm in Arm auf den Weg in ihre Lieblingspizzeria.

Ein paar Tage später geht es für die junge Band nach Berlin, allen Zweiflern und Gegnern zum Trotz. Ihnen ist bewusst, dass es nicht immer leicht werden wird, doch sie wissen, dass sie sich gegenseitig haben, dass sie das tun dürfen, was sie lieben und dass diese Zeit für sie definitiv keine verschwendete Zeit sein wird, auch wenn andere das so sehen. Als sie ein paar Monate später die Zusage für ihr erstes Album bekommen, haben sie sofort die Idee, dieses Album „Verschwende deine Zeit" zu nennen. Es wäre doch eine gute Idee, wenn die Leute ihre Zeit damit verschwenden würden, die Songs zu hören. Als die vier am 12. Juli 2004 zum Album Release überglücklich ihr erstes Album in Händen halten, flüstert Stefanie ergriffen „Jungs, ich will noch ganz, ganz lange meine Zeit mit euch und der Musik verschwenden!"

Silbermond OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt