Kartenhaus

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Stefanie vergräbt ihr Gesicht in der Halsbeuge ihres Freundes und atmet tief seinen vertrauten Geruch ein. Sie ist so dankbar, ihn nun schon seit 3 Monaten an ihrer Seite zu haben. Er hat sie aus ihrem dunklen Loch gezogen, in das sie gefallen war, weil sie komplett die Hoffnung verloren hat, jemanden zu finden, der sie liebt. Alle um sie herum waren glücklich vergeben und sie dadurch immer nur das fünfte Rad am Wagen...das Anhängsel, das man ja nicht so alleine lassen kann. Eigentlich hat es ihr ja an nichts gefehlt. Sie hatte die Band, ihre ersten großen Erfolge, tolle Freunde und eine Familie, die immer für sie da ist. Und trotzdem war da diese eine große Sehnsucht, die sie in ein tiefes Loch gezogen hat. In ein Loch, in dem sie keinen Funken Licht mehr sehen konnte. Ihr Leben wurde immer dunkler, der Tag zur Nacht, der Wunsch nach einem Partner, bei dem sie sich einfach mal fallen lassen kann und nicht immer die Starke sein muss, immer größer. Sie hat niemandem erzählt, wie es in ihr drin aussieht, sich immer verstellt, da sie ja eh niemand verstanden hätte. Ihre Jungs haben wohl ein paar Mal gefragt, was eigentlich mit ihr los sei, doch sie hat immer eine gute Erklärung gefunden ohne die Wahrheit preisgeben zu müssen. Aber innerlich war sie am Boden...zu schwach um noch mal aufzustehen und gleichzeitig zu stark, um hier zu liegen.

Und dann ist sie eines Tages ihm begegnet. Ein absoluter Zufall...unabsichtlich hat er sie angerempelt, wodurch Stefanie die Kiste mit Gläsern, die sie grade gekauft hat, aus den Händen gefallen war. Alles voller Scherben mitten am Parkplatz, zwei betretene Gesichter, die das Malheur betrachteten. Und dann ein herzliches Lachen und die Aussage „Na, Scherben bringen ja bekanntlich Glück, also muss heut wohl unser Glückstag sein", die Stefanies Herz sofort etwas schneller schlagen ließen. Gleich darauf wurde eine neue Kiste mit Gläsern gekauft und sicher in Stefanies Auto verfrachtet. Dann hat er darauf bestanden, sie für die Umstände noch auf einen Kaffee einzuladen. Von Anfang an konnte Stefanie bei ihm so sein, wie sie ist...musste sich nicht verstellen. Es war auch nicht wichtig, dass sie bekannt war. Er interessierte sich für sie als Person, nicht für ihren Erfolg mit der Band. Nach dieser ersten Begegnung folgte eine zweite und eine dritte und Stefanie wurde süchtig nach Kontakt mit ihm. Es tat so gut, in seiner Nähe zu sein. Sie fühlte sich endlich wieder ganz. Dabei hätte sie nie gedacht, dass sich das Blatt noch mal wendet. Ihr erster Kuss war unbeschreiblich und sie konnte es lange Zeit nicht fassen, nun tatsächlich jemanden gefunden zu haben, der an ihrer Seite ist. Er hat ihr das Licht in ihre Welt zurückgebracht und ab diesem Zeitpunkt lief alles wieder viel leichter. Auch ihre drei Jungs haben das bemerkt und gönnen es ihrer Kleinen so sehr, dass sie endlich ihr Glück gefunden hat. Stefanie schreckt aus ihren Gedanken auf, als ihr Freund sich bewegt. Sie hebt den Kopf und betrachtet ihn eine Weile. Sanft fährt sie mit dem Finger seine Gesichtszüge nach. Dann bettet sie ihren Kopf auf seiner Brust und lauscht seinen tiefen Atemzügen. Eigentlich sollte sie auch dringend schlafen, schließlich geht morgen die Tour weiter und sie wird die nächsten zwei Wochen wieder unterwegs sein. Aber sie ist grade zu sehr in ihren Gedanken versunken. Schon beim letzten Mal ist es ihr extrem schwer gefallen, so lange von ihm getrennt zu sein. Sie braucht ihn einfach...seine Nähe, seine Zuwendung, seine Liebe. Darum würde sie auch alles für ihn tun.

Er hat ihr Leben neu gemacht, sie mit seiner Kraft angesteckt und alles einfach wieder so lebenswert gemacht. Wieso sollte sie sich also dagegen wehren? Sie weiß, dass er der Wind ist, der sie hoch trägt und dass er sie fliegen sehen kann. Und gleichzeitig ist ihr bewusst, dass er sie jederzeit mit nur einem Wort zum Absturz zwingen könnte. Doch das würde er niemals tun. Er hat ihr gesagt, dass er sie liebt, dass sie sein Leben bereichert und alles für ihn ist. Außerdem braucht er sie genauso. Schließlich hat er eine schmerzhafte Trennung hinter sich und ist umso dankbarer, nun Stefanie gefunden zu haben. Noch einige Zeit lässt sich Stefanie von ihren Gedanken forttragen, bis die Müdigkeit siegt und sie irgendwann erschöpft einschläft. Ihr Abschied am nächsten Morgen fällt ihr sehr schwer, doch sie versprechen sich, jeden Tag miteinander zu telefonieren. Diese Telefonate geben Stefanie jeden Tag neue Energie für die Konzerte und da sie es ja auch liebt, über die Bühnen zu springen und die Leute in ihren Bann zu ziehen, vergehen die nächsten zwei Wochen wie im Flug. Endlich kommen sie zurück nach Berlin und Stefanie kann es kaum erwarten, ihren Freund wieder in die Arme zu schließen. Sie bringt noch schnell ihr Gepäck in ihrer Wohnung vorbei und macht sich dann auf den Weg zu ihm. Er erwartet sie schon und als er sie in die Arme schließt, entdeckt Stefanie hinter ihm einen gedeckten Tisch mit Kerzenlicht. Sie löst sich aus seiner Umarmung und strahlt ihn an. „Sag mal, hast du das etwa für mich gemacht?" flüstert sie ergriffen und nähert sich seinen Lippen. Doch er weicht einen Schritt zurück und geht auf Abstand. „Stefanie...ich...bitte sei mir nicht böse...ich wollte mit dir nicht am Telefon darüber sprechen. Du weißt, wie sehr ich Linda, meine Ex geliebt habe...wie schwer diese Trennung für mich war...ich...du hast mir echt durch diese schwere Zeit geholfen, dafür bin ich dir sehr dankbar. Aber wir haben uns letzte Woche wieder getroffen und sie...ahm...ihr ist bewusst geworden, dass es ein großer Fehler war, dass wir uns getrennt haben" erklärt er ihr, doch Stefanie sieht ihn nur verständnislos an.

Sie hat zwar gehört, was er ihr gesagt hat, aber in ihrem Kopf ist das noch nicht angekommen. Da Stefanie nicht reagiert, berührt er sie an den Schultern. „Stefanie, es tut mir wirklich leid, aber ich bin jetzt wieder mit Linda zusammen. Sie wird in zehn Minuten hier sein, deshalb würd ich dich jetzt bitten, zu gehen. Ich hab deine Sachen schon alle zusammengepackt, die du hier hattest" stellt er nun noch mal klar und deutet mit dem Kopf neben die Garderobe, wo Stefanies Tasche steht. Wie in Zeitlupe wendet sie ihren Kopf dorthin, sieht im Augenwinkel das Flackern der Kerze am gedeckten Esstisch. Doch die Kerze in ihrem Inneren wurde in diesem Moment von ihm ausgelöscht. Hat er ihr doch ganz deutlich gesagt, dass er sie nicht mehr braucht. Langsam geht sie zur Tasche hin, nimmt sie hoch und tritt dann zur Tür. Dort verharrt sie für einen Moment. Will sich noch einmal umdrehen, hofft dass das alles grade nicht passiert ist. „Mach's gut, Stefanie!" dringt es an ihr Ohr und während sie die Türklinke nach unten drückt und aus seiner Wohnung schleicht, spürt sie wie sie fällt. Sie fällt wieder tief in ihr dunkles Loch zurück. In das Loch, aus dem er sie vor nur wenigen Monaten herausgeholt hat. Wie in Trance bewegt sie sich zu ihrem Auto. Kann noch immer nicht fassen, was da gerade passiert ist. Er hat doch ihr Leben ausgemacht, war ihr Sinn und ihr Lebenswert. Und jetzt ist all das nichts mehr wert. Sie spürt, wie alles herum dunkel wird. Wie ihr Kartenhaus, das sie auf ihm aufgebaut hat, in sich zusammenfällt. Sie hat gedacht, dieses Haus wäre stabil, er würde sie halten und immer für sie da sein. Doch jetzt hat er einfach die unterste Karte rausgezogen und damit alles zum Einsturz gebracht. Stefanie fühlt sich, als wäre sie gar nicht mehr in ihrem Körper. Es ist, als beobachte sie sich selbst, wie sie sich hinters Steuer setzt, den Motor startet und losfährt. Sie hat keine Ahnung, wo sie hinfährt. Um sie herum wird es immer dunkler und dunkler...

„Stefanie! Verdammt, jetzt wach doch endlich auf!" hört sie eine vertraute Stimme an ihr Ohr dringen. Nur mühsam öffnet sie ihre schweren Augenlider und versucht sich irgendwie zurecht zu finden. Sie scannt langsam die Umgebung. Wieso liegt sie in ihrem Proberaum auf der Couch? Ein Kopf mit längeren braunen Haaren beugt sich über sie und ein Paar blau-graue Augen mustert sie besorgt. „Hast du sie endlich wach bekommen, Thomas?" hört sie eine weitere vertraute Stimme hinter ihrem Rücken. „Ja...aber ich bin mir nicht sicher, ob sie geistig überhaupt hier bei uns ist" murmelt Thomas, der die erschreckende Leere in ihren Augen bemerkt. „Scheiße, was ist denn bloß passiert?" dringt eine dritte Stimme an ihr Ohr und kurz darauf taucht ein von braunen Locken umrahmtes Gesicht vor ihr auf. „Stefanie, kannst du dich aufsetzen?" fragt der Gitarrist und während Stefanie noch immer mühevoll versucht, ihre Gedanken zu sortieren, lässt sie sich von ihrem Bandkollegen hochziehen. Thomas setzt sich neben sie, um sie zu stützen, während Johannes sich auf ihrer anderen Seite niederlässt und Nowi sich vor ihr auf den Boden setzt. „Wieso bist du denn nicht bei deinem Freund? Noch gestern konntest du es nicht erwarten, ihn wiederzusehen" fragt Thomas etwas verwirrt. Als er Stefanies Freund oder besser gesagt Ex-Freund erwähnt, brechen plötzlich alle Erinnerungen des letzten Abends wieder über sie herein. Er hat sie verlassen...für seine Ex-Freundin. Er hat sie nur benutzt, um über sie hinwegzukommen...oder vielleicht sogar, um sie wieder zurückzubekommen? Stefanie hat keine Ahnung mehr, wie sie danach im Proberaum gelandet war, aber ihre Instinkte werden sie wohl automatisch dorthin getragen haben, wo ihr einziger sicherer Ort ist. Die Erinnerung an das, was gestern Abend passiert ist, nimmt Stefanie die Luft. Ihr Augen werden groß und verzweifelt, versucht sie zu atmen, doch ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Als Thomas ihren verzweifelten Ausdruck sieht, zieht er sie sofort in seine Arme. Diese Berührung lässt bei Stefanie alle Dämme brechen und ein lauter Schluchzer verlässt ihre Kehle.

Die drei Jungs sehen sich hilflos an. Keiner weiß, was eigentlich passiert ist und wie sie Stefanie helfen können. Deshalb sind sie in diesem Moment einfach für sie da, halten sie und zeigen ihr, dass sie nicht alleine ist. Es dauert lange, bis Stefanie sich ein wenig beruhigen kann. Als ihre Tränen endlich weniger werden, zittert sie vor Erschöpfung am ganzen Körper. Deshalb besorgen ihr Johannes einen warmen Tee und Nowi eine Decke, die er über sie legt. Thomas hält sie weiterhin einfach fest in seinen Armen. Stockend erzählt Stefanie, was gestern Abend passiert ist, und wird währenddessen immer wieder von heftigen Schluchzern unterbrochen. Doch die drei Jungs weichen nicht von ihrer Seite. Johannes hält ihre Hand, Nowi hat seine Hände auf ihren Knien und Thomas streicht ihr sanft durchs Haar. Eine ganze Weile schweigen die vier und als Stefanie endlich einschläft, flüstert ihr Thomas ins Ohr „Kleine, es kommen auch wieder andre Zeiten...wir lassen dich nicht allein!"

Silbermond OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt