Bist du dabei?

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Thomas sieht sich auf der kleinen Dachterrasse um, die auf dem Gebäude ist, in dem ihr Proberaum liegt. Wie so oft nach einem langen Tag haben sich die vier hier nach oben verzogen. Der Tag, der hinter ihnen liegt, war nicht nur lang, sondern auch sehr produktiv. Sie sind grade dabei, Songs für ihre dritte Platte zu schreiben. Rechts neben Thomas sitzen sein Bruder und Nowi, alle mit einer Bierflasche in der Hand. Dann wandert sein Blick zur Brüstung, wo Stefanie steht. Ihr Gesicht leuchtet im Schein der untergehenden Sonne und die leichte Brise bringt Bewegung in ihr langes, schwarzes Haar. Nur mit Mühe kann Thomas ein Seufzen unterdrücken und den Blick wieder von ihr abwenden. Wie ist das nur passiert, dass er jedes Mal dieses seltsame Gefühl in seinem Bauch bekommt, wenn er sie ansieht? Er weiß, dass er dringend mit ihr darüber reden sollte...aber irgendetwas hält ihn zurück. Wenn er ehrlich zu sich selbst ist, muss er sich eingestehen, dass er Angst hat. Angst aber nicht deshalb, weil er etwas für sie empfindet, sondern weil da so viel mehr dran hängt. Was würde das mit der Band machen, wenn sie beide ein Paar wären? Würde das nicht seltsam sein? Was würde passieren, wenn sie sich mal streiten? Würden sie dann automatisch auch die anderen beiden mithineinziehen? Nun kann sich Thomas sein Seufzen doch nicht mehr verkneifen. Gerade in dem Moment lässt sich Stefanie neben ihn auf den Boden gleiten. Sie legt ihm eine Hand auf den Arm und sieht ihn besorgt an „Alles gut bei dir?" Für einen kurzen Moment verlieren sich beide in ihrem Blick.

Dann blinzelt Thomas, um sich aus ihrem Blick zu befreien. „War nur ein langer Tag heute...oder besser gesagt viele lange Tage die letzten Wochen" meint er mit einem Schmunzeln. Als er nun seine Hand auf die von Stefanie legt, die immer noch auf seinem Arm ruht, flüstert er leise „Aber danke..." Während sich ein Kribbeln in den beiden Händen, die sich berühren, ausbreitet, verhaken sich ihre Blicke ein weiteres Mal. Plötzlich zieht Stefanie ihre Hand weg und unterbricht den Blickkontakt. Nicht nur ihren Blick, sondern auch ihre Gedanken lässt sie in die Ferne wandern. Wie so oft in letzter Zeit gab es schon wieder >so einen Moment< zwischen ihnen. Stefanie hat aufgehört zu zählen, wie oft sie sich schon in diesen wunderschönen blau-grauen Augen verloren hat. Jedes Mal wieder lässt er ihr Herz schneller schlagen und sie zweifelt nicht daran, dass es ihm genauso geht. Aber irgendwie hatten sie noch keine Gelegenheit darüber zu sprechen. Entweder waren die anderen beiden dabei oder sie waren zu abgelenkt von anderen Dingen. Oder vielleicht hatte sie auch einfach nicht den Mut, ihn darauf anzusprechen. Irgendwann beginnt Johannes ein Gespräch, bei dem sich alle beteiligen und erst als es schon die längste Zeit dunkel ist und die Sterne über ihnen funkeln, machen sich die vier auf den Heimweg. Thomas ist den ganzen Heimweg über ziemlich schweigsam, was Johannes aber nicht weiter auffällt, weil die Brüder beide nicht diejenigen sind, die ständig quatschen müssen. Thomas geht das Bild von Stefanie, wie sie dort an der Brüstung steht einfach nicht aus dem Kopf. Er liebt den Ausblick von dort oben genauso wie sie. Generell liebt er es, irgendwo hoch oben zu sein. Am liebsten würde er ja einmal Fallschirmspringen, aber irgendwie hat es sich noch nie ergeben. Und wieder schiebt sich das Bild von Stefanie dort oben nach vorne. Ob sie zu küssen, wohl dasselbe auslsöen würde, wie der Moment im Flugzeug vorm Absprung? Schnell schüttelt Thomas den Kopf, um diese Gedanken wieder wegzubekommen. Zuhause angekommen hüpft er schnell unter die Dusche und verzieht sich dann in sein Zimmer. Dort schnappt er sich Zettel und Stift und beginnt ein paar Zeilen aufzuschreiben:

Du siehst die Welt da unten leise ziehn. Deine Adern explodiern vor Adrenalin. Du hast so lang davon geträumt und es doch nie getan. Jetzt peitscht der warme Wind in dein Gesicht. Unter dir nur Wolken und sonst nichts. Und wenn dich jetzt nichts mehr hält, dann fällst du frei. Bist du dabei?

Thomas hat das Bild des Fallschirmsprungs vor Augen, doch ständig taucht Stefanies Gesicht vor ihm auf. Er sieht sie beide da oben stehen, gemeinsam würden sie genau diese Freiheit spüren...sie würden gemeinsam fallen. Ein Klopfen an der Tür reißt ihn aus seinen Gedanken. Mit einem Ja bittet er seinen Bruder herein. „Hey, wollte nur noch mal kurz Bescheid geben, dass ich morgen ziemlich früh schon los düse, falls wir uns nicht mehr sehn" erinnert ihn Johannes. „Ach ja, hätt ich jetzt tatsächlich vergessen" gibt Thomas zu, dem erst jetzt wieder einfällt, dass Johannes mit einem Kumpel für ein paar Tage auf Urlaub fährt. „Ich wünsch euch viel Spaß! Macht die Welt unsicher" zwinkert er seinem Bruder zu. „Danke! Nowi fährt ja auch ein paar Tage nach Bautzen. Triffst du dich trotzdem mit Steff im Proberaum?" fragt Johannes. Thomas zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es ehrlich gesagt gar nicht. Wir haben nicht darüber gesprochen. Aber ich werd auf jeden Fall hinfahren und ein bisschen an den Songs weiterarbeiten. Mal sehen, ob Steff auch da ist. Aber die hat soweit ich weiß, nichts anderes vor" meint Thomas, dem in diesem Augenblick bewusst wird, dass sie in den nächsten Tagen endlich die Möglichkeit hätten, miteinander zu sprechen...über das, was da zwischen ihnen ist...falls da was ist...aber das steht eigentlich außer Frage. Dafür sind ihre Blicke zu eindeutig, das Kribbeln in ihrer Nähe zu heftig. „Aber nicht, dass ihr das ganze Album fertig habt, bis wir zurück sind" lacht Johannes. Thomas steigt in sein Lachen ein und sagt „Keine Sorge, wir lassen euch auch noch ein bisschen was von der Arbeit übrig!" Dann verabschiedet sich Johannes und lässt Thomas wieder mit seinen Textzeilen und seinen Gedanken allein.

Als Thomas am nächsten Vormittag im Proberaum ankommt, ist Stefanie noch nicht da. Er nimmt sich seine Gitarre und beginnt ein bisschen zu spielen, aber irgendwie treibt es ihn auf die Dachterrasse hinauf. Er schnappt sich den Zettel von gestern Abend und einen Stift. Bevor er sich damit auf den Weg hoch macht, hinterlässt er noch ein Post-it für Stefanie, falls sie doch vorbei kommt, und schreibt drauf, dass er oben ist. Als Thomas aus der kleinen Tür auf die Dachterrasse tritt, empfangen ihn schon warme Sonnenstrahlen und ein wolkenloser Himmel. Er lehnt sich einen Moment an die Brüstung und betrachtet die Umgebung, bevor er sich Zettel und Stift nimmt und weitere Zeilen aufschreibt:

Hier oben sieht die Welt so friedlich aus, als dulde sie nichts Böses in ihrem Raum. Fast so als wär sie völlig im Gleichgewicht. Hier oben wirst du schwere Gedanken los. Hier kriegt die letzte Last den Gnadenstoß. Du teilst den Raum und schwebst und fällst so frei. Bist du dabei?

Es fühlt sich tatsächlich alles so frei an hier oben. Es scheint, als würden sich auch die Ängste und Zweifel einfach in Luft auflösen. Schnell notiert er noch ein paar Zeilen. Gerade als er den Stift absetzt, hört er hinter sich das Quietschen der Tür. Er dreht sich um und entdeckt Stefanie, die ihm mit einem Lächeln entgegenkommt. „Hey! Was machst du denn hier oben und wo sind denn die andren beiden?" fragt sie. Thomas zieht sie in eine kurze Umarmung und erzählt ihr dann, dass Johannes ja mit seinem Kumpel unterwegs und Nowi in die Heimat gefahren sei. Stefanie sieht ihn überrascht an, dann lacht sie. „Ich dachte, das wäre erst nächste Woche...aber anscheinend ist schon nächste Woche. Irgendwie hab ich voll das Zeitgefühl verloren, weil wir ständig hier im Proberaum hocken." Thomas nickt zustimmend und meint „Geht mir genauso." Dann entdeckt Stefanie den Zettel mit seiner Handschrift. „Hast du was Neues aufgeschrieben?" fragt sie neugierig. Thomas senkt seinen Blick. Er zögert einen Moment, weil er nicht weiß, ob er schon bereit ist, es ihr zu zeigen. Eigentlich will er sie damit fragen, ob sie dabei ist...bei dem hier, was da auch immer zwischen ihnen ist...

Stefanie bemerkt sein Zögern und sagt leise „Du musst es mir nicht zeigen, wenn du nicht willst." Während sie das sagt, mustert sie ihn aufmerksam und bemerkt, dass ihn etwas beschäftigt. Sie legt ihre Hand auf seine. „Willst du darüber reden?" fragt sie sanft. Als Thomas seinen Blick wieder hebt und direkt in ihre braun-grünen Augen sieht, fällt jede Angst von ihm ab. Mit einem Lächeln schiebt er ihr den Zettel hin. Überrascht greift Stefanie danach und beginnt zu lesen. Zwischendurch hebt sie ihren Blick vom Zettel und lässt ihn in die Ferne schweifen. Sie fühlt genau das, was Thomas hier in Worten auf diesen Zettel gepackt hat. Und gleichzeitig lösen diese Worte auch ein Kribbeln in ihrem Bauch aus. Gerade als sie zu den letzten Zeilen kommt, die am Papier stehen, spürt sie Thomas Finger an ihrem Kinn. Er hebt ihren Kopf an und sie ist erstaunt, wie nah er ihr plötzlich ist. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, als sie seine Nähe spürt. Thomas öffnet seinen Mund und gibt die letzten Sätze wieder, die er vorhin aufgeschrieben hat „Komm bekämpfe deine Ängste und dein Mut wird dich auffangen. Und das macht dich frei von Raum und Zeit. Komm, alles fliegt für dich und dann geht der Fallschirm auf." Er sieht ihr tief in die Augen und flüstert mit rauer Stimme „Lass uns zusammen fliegen...bist du dabei?" Stefanie sieht ihn mit großen Augen an. Thomas ist ihr nun schon so nah, dass sie seinen warmen Atem an ihrer Haut spüren kann. Für einen Augenblick halten beide die Luft an, dann überbrücken sie gleichzeitig die letzten Zentimeter, die sie noch trennen. Als ihre Lippen aufeinandertreffen, scheint es, als würde die Zeit stehen bleiben....

Alles schweigt, still hier. Alles ruht in mir. Und hätt ich jetzt nur einen Wunsch frei: Vielleicht könnt es für immer so sein...

Erst nach einer ganzen Weile lösen die beiden schwer atmend ihre Lippen voneinander. Schmunzelnd streicht Thomas Stefanie eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hat. Seine Hand lässt er an ihrer Wange liegen. „Und, bist du dabei?" fragt er dann leise. Mit einem Lächeln haucht Stefanie ihm einen zarten Kuss auf die Lippen und murmelt „Ich bin dabei!"

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Silbermond OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt